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Was tönt denn da? Seit zehn Jahren läuft das Klangkunst-Projekt „Geräuschmusik“ schon an Berliner Kitas.

© promo/geräusch(mu’si:k)

Avantgarde in Gummistiefeln: Ein Berliner Kitaprojekt sprengt die musikalischen Horizonte der Erwachsenen

Beethoven und Mozart für die Kleinen? Ein Künstlerpaar macht Klangkunst mit Kindern – und stellt Hörgewohnheiten vor eine Herausforderung.

Manche meinen, musikalische Früherziehung sei der Schlüssel, um schon im Kitaalter Hochbegabungen zu entdecken, die Spreu vom Weizen zu trennen, die Beethovens, Mozarts und Schönbergs ihrer Generation aus dem Sumpf des Mittelmaßes zu lösen und ihrer höheren Bestimmung zuzuführen.

Das mögen unzeitgemäße, elitäre Elternträume sein, die Pädagogen schon lange nicht mehr bedienen wollen. Wie aber begleitet und gestaltet man die ersten musikalischen Kindesschritte, ohne schon an Glockenspiel oder Blockflöte eine Trennung der mutmaßlich Begabten von den Unbegabten durchzuführen?

Auch das typische Orff-Instrumentarium, das viele Schulen im Musikunterricht einsetzen, verliert seine Niederschwelligkeit, wenn die Musik, die damit gemacht wird, zu enge Anforderungen in puncto Rhythmus, Metrum und Ausdrucksweisen stellt. So werden Kinder abgehängt und Potenziale, die nicht ins Raster passen, übersehen.

Seit zehn Jahren mischen Daniela Fromberg und Stefan Roigk deshalb mit einem eigenen Ansatz und ihrem Projekt „Geräuschmusik“ erfolgreich Berliner Kitas auf. Und sprengen nebenbei auch die Musikhorizonte von Eltern und Erzieher:innen.

Fromberg und Roigk, privat wie beruflich ein Paar, sind ausstellungs- und konzerterprobte bildende Künstler, Klangkünstler und Komponist:innen, die ursprünglich gar nicht vorhatten, in die kulturelle Bildung einzusteigen.

Unabsichtlich von der Kunst in die kulturelle Bildung

„Im Jahr 2009 führten wir im Rahmen einer Eltern-Kind-Initiative an der Kita unseres Sohns den ersten Workshop durch, experimentierten ganz wild mit Kindern aller Altersstufen und waren selbst überrascht davon, wie gut das lief“, sagt Fromberg.

Schnell kamen Anrufe anderen Eltern, die um Wiederholung baten, bald darauf auch von anderen Kitas. „Nach der damaligen Pisa-Schockstudie suchten alle händeringend nach alternativen Ansätzen und der Bezirk bezuschusste die Workshops schnell.“

Der Kern der Workshops war eine Art Materialforschung – und die Kinder waren die Forscher:innen. Die einzelnen Abschnitte drehten sich darum, herkömmliche Alltagsobjekte auf ihre klanglichen Möglichkeiten zu untersuchen, etwa Papiertüten, Kartons, Spülbürsten, Kamm und Lineal.

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„Die Papiertüte kann man aufblasen und mit einem lauten Knall zum Platzen bringen, klar“, sagt Roigk. „Aber man kann sie auch langsam zerreißen, damit auf tausend Weisen rascheln, sie sich an die Ohren halten und durch sie hindurch die Umwelt hören, kann sie an unterschiedlichen Gegenständen reiben.

Man kann sie zum Trichter formen und durch ihn hindurchrufen, die eigene Stimme damit verzerren – jedes Mal klingt es anders.“

Die Kinder entwickeln ganz verschiedene Ansätze, sagt das Künstlerpaar – manche wollen laut sein, andere begeistern sich für Feinheiten, versinken schon mal minutenlang in das Geräusch einer leise über Raufasertapete streichenden Haarbürste.

Hinter die Kulissen horchen

Was Erwachsenen sonderbar vorkommen mag, ist zunächst ein ganz eigener Zugang zur Welt. Als erwachsener Mensch hat man vor allem gelernt, Geräusche auszublenden.

„Geräusche haben einen schweren Stand. Im Alltag geht es zumeist darum, sie zu unterdrücken. Der gedankliche Schritt vom Geräusch zum minderwertigen Lärm geht sich scheinbar von allein“, sagt Fromberg.

„Dabei sind Geräusche ein Nebenprodukt der Bewegung – wann immer sich etwas bewegt, wann immer Reibung stattfindet, entsteht auch ein Geräusch.“

„Geräusche haben einen schweren Stand,“ sagt Daniela Fromberg.
„Geräusche haben einen schweren Stand,“ sagt Daniela Fromberg.

© PROMO/GERÄUSCH(MU’SI:K)

Und das weckt Forschergeist: Das Geräusch, das von einem Gegenstand ausgeht, offenbart, was drinsteckt, ob er einen Hohlraum hat, welches Material sich unter seiner Lackoberfläche befindet.

So lässt sich den Dingen auf den Grund gehen, hinter die Kulissen horchen. Nur, was hat das mit Musik zu tun? „Normalerweise wird den Kindern beigebracht, dass es erst Musik ist, wenn es nicht mehr schräg klingt,“ sagt Roigk.

„Wir haben dagegen von Anfang an gesetzt, dass alles, was wir hier tun, Musik ist.“ Und die beginnt mit dem Hören und Tasten, endet aber nicht dabei.

Partituren schreiben heißt hier Musikbilder malen

„Wir zeigen den Kindern Formen der grafischen Musiknotation, wie sie in der Neuen Musik vorkommen, und schreiben mit den entdeckten Geräuschen Musikstücke“, sagt Roigk.

„Natürlich heißt das dann nicht ‚grafische Notation‘, was die Kinder nicht verstehen würden. Wir sagen, ‚wir malen jetzt Musikbilder und denken uns dafür Musikzeichen aus.

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Das ist wie mit Verkehrszeichen, bei Rot steht alles still, bei Grün machen wir dies und das‘. Wir leiten die Kinder dabei an, die Klänge, die sie selbst entdeckt und für interessant befunden haben, in ein größeres Ganzes einzubetten.

Das ist sehr ergebnisoffen und fordert uns die Kompetenz ab, auch mal das Würge- oder Kotzgeräusch, das ein vierjähriges Mädchen gerne artikulieren möchte, als musikalischen Ausdruck ernst zu nehmen.“

Sie erfinden dazu Zeichen für den Einsatz eines Kamms, der über einen Pappkarton streicht, oder einer zum Platzen zu bringenden Papiertüte.

Kinder haben keine Berührungsängste mit Neuer Musik

„Unser Anspruch ist nicht, dass die Partituren am Ende so aussehen wie die bekannter Komponist:innen, sondern eben wie Partituren fünfjähriger Kinder.“

Bei der Aufführung vor Eltern und Erzieher:innen werden die jungen Komponist:innen dann zum Musikensemble. Neben der Hörsensibilisierung üben sie sich hier in Sprache und Sozialverhalten.

„Schön ist dabei, wie die Kinder sämtliche Klischees von Herkünften, sozialen Schichten, Bezirken ganz radikal widerlegen,“ sagt Roigk. Wenn sich soziale Hintergründe überhaupt bemerkbar machen, dann etwa, wenn manche Kinder stärker darauf aus sind, Leistung zu bringen und sich in den Vordergrund zu spielen, als andere.

Stefan Roigk kann auch Würge- und Kotzgeräusche als musikalischen Ausdruck ernst nehmen.
Stefan Roigk kann auch Würge- und Kotzgeräusche als musikalischen Ausdruck ernst nehmen.

© promo/geräusch(mu’si:k)

Gerade in sogenannten Problembezirken seien die beiden schon vorgewarnt worden, dass es mit Kunstprojekten mit dem kunstfernen Publikum schwierig werden könnte. Gerade da, wo Kinder und Eltern keine vorgefassten Urteile über Musik abgeben, herrsche aber oft mehr Offenheit gegenüber ungewohnten Klängen, erzählen sie. „Man hat ja in der öffentlichen Wahrnehmung oft den Eindruck, dass Neue Musik einen besonders elitären Anspruch hat.

[Im Lockdown hat das Projekt notgedrungen Pause, ab sofort ist das Programm aber in Form von wöchentlich erscheinenden Videos fürs Homeschooling online unter www.geraeuschmusik.de zugänglich.]

Wenn wir den Kindern Geräuschmusik von John Cage, Mauricio Kagel oder auch Joseph Beuys’ ‚Ja Ja Ja, Ne Ne Ne‘ vorspielen und die Kinder das sofort freudig aufgreifen und mit ihren Mitteln nachmachen, zeigt sich, wie niederschwellig diese Kunst sein kann, wenn man unvoreingenommen an sie herangeht“, sagt Fromberg.

Ein Teenagermädchen, das einer Aufführung zugesehen hat, reagierte auf das Fehlen gewohnter Klänge dagegen mit „Was ist das denn für kranker Scheiß?“ – so ähnlich hat schon das Publikum auf die Uraufführung von Beethovens Dritter, der „Eroica“, 1804 reagiert.

Dass man zum Musikmachen keine Musikinstrumente braucht, ist übrigens nicht nur in puncto ästhetische Bildung interessant. Es bedeutet auch ganz pragmatisch, dass Kitas, die sich keine teuren Instrumente leisten können, nicht auf Musik verzichten müssen. Auch nachdem die Workshops schon vorbei sind. „Und wir wissen, dass sie es auch nicht tun“, sagt Fromberg.

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