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Aus der Großen Halle des Märkischen Museums mit einer Installation von Chengyu Hsieh gelangt man auf die beiden Zeitebenen der Ausstellung „Chaos & Aufbruch – Berlin 1920/2020.“

© Wolfgang Kumm/dpa

Ausstellung zum Stadtjubiläum: Der große Sprung zur Metropole

Eine Ausstellung im Märkischen Museum zur Gründung Groß-Berlins versucht den Spagat zwischen 1920 und Gegenwart.

Häuser gelten als Immobilien, und die heißen so, weil sie sich nicht vom Fleck bewegen können, aber muss das so sein? Wäre nicht auch ein Haus in Gestalt eines mobilen Roboters denkbar? Von turmhoher Größe, damit ordentlich viele Wohnungen reinpassen, und der bewegt sich dann jeweils dorthin, wo gerade was frei ist. Oder wie wäre es mit einem Wohnzeppelin? Im Himmel über Berlin ist doch massig viel Platz, der müsste ja nicht mal irgendwo in der Luft stehenbleiben, könnte über dem Stadtgebiet kreisen, der Ausblick wäre fantastisch.

Zukunftsquatsch? Könnte man so nennen. Aber auch die Einordnung als fantastische Utopie, als Spielerei des sich die Berliner Zukunft in 100 Jahren ausmalenden Geistes scheint zulässig, ja durchaus geboten.

Wie auch immer man Roboterhaus, Wohnzeppelin und all die anderen kunterbunten Details des von Jugendlichen geschaffenen Stadtmodells „ComplexCityBerlin 2120“ bewertet – es ist doch ein überraschender, damit erfrischender Beitrag zu einer Ausstellung, die um die Gründung von Groß-Berlin vor 100 Jahren kreist – einen politisch-administrativen Verwaltungsakt also, über den man im vorangeschrittenen Jubiläumsjahr schon so viel gelesen, gehört und gesehen hat. Deshalb weiß man auch in etwa, was einen erwartet.

Verspätung durch das Virus

Der späte Zeitpunkt der Eröffnung am Dienstag im Märkischen Museum ist nicht der vertrauten Berliner Saumseligkeit, sondern dem Coronavirus anzulasten. An sich sollte „Chaos & Aufbruch – Berlin 1920/2020“ schon Mitte April starten, woran Paul Spies, Direktor des Stadtmuseums Berlin, bei der Vorstellung der Jubiläumsschau erinnerte.

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Der Lockdown bedeutete auch für sein Haus geschlossene Türen und das Ausweichen auf digitale Angebote, und selbst jetzt, wenngleich den Besuchern ein vollwertiges Ausstellungserlebnis versprochen wird, hat das vertrackte Virus im Konzept Spuren hinterlassen. Jeder Raum hat seinen individuellen Aufkleber am Fußboden erhalten, von wie vielen Personen er gleichzeitig betreten werden darf.

Und man werde, der nicht unerheblichen Kosten zum Trotz, hinreichend Personal postieren, damit die Besucher nicht kreuz und quer, sondern immer schön in die vorgesehene Richtung strömen („Chaos & Aufbruch – Berlin 1920/ 2020“; Märkisches Museum, Am Köllnischen Park 5 in Mitte. Bis 30. Mai 2021, Di – Fr 12 – 18 Uhr, Sa/So 10 – 18 Uhr. Freier Eintritt am 29./30. August. Informationen zur Ausstellung und zum Begleitprogramm unter www.stadtmuseum.de).

Wie kann Großstadt gelingen?

Kümmert sich ein Stadtmuseum per Ausstellung um einen extraordinären Abschnitt der Geschichte seiner Kommune, so wäre an sich eine hochgradig historische Nabelschau zu erwarten. Das allerdings – schon der Titel wie auch das zwischen Vergangenheit und Gegenwart changierende Plakat deuten es an – ist die von Gernot Schaulinski kuratierte Ausstellung im Märkischen Museum keineswegs. Vielmehr versucht sie mit Erfolg, die zwei Zeitebenen miteinander zu verknüpfen, ja sie, sich gegenseitig interpretierend, aufeinander zu beziehen, stets unter der übergeordneten Frage: Wie kann Großstadt gelingen?

Wobei die Zeitebenen sich in zwei Raumebenen spiegeln: Im unteren Geschoss die Zeit um 1920, der große Sprung Berlins zur europäischen Metropole, oben die teilweise utopisch in die Zukunft verlängerte Gegenwart. Der Große Saal fungiert dann gleichsam als Gelenkstelle und Ausgangspunkt der beiden Rundgänge, beeindruckend gestaltet durch eine imposante Installation des Künstlers Chengyu Hsieh und die weniger imposanten als informativen Stelltafeln, auf denen die mit dem Stadtmuseum kooperierenden Bezirksmuseen ihre Projekte fürs Groß-Berlin-Jahr vorstellen.

Nur mit Maske. Wegen der Coronakrise war auch das Märkische Museum monatelang geschlossen. Auch der Neustart erfolgt unter Auflagen.
Nur mit Maske. Wegen der Coronakrise war auch das Märkische Museum monatelang geschlossen. Auch der Neustart erfolgt unter Auflagen.

© Wolfgang Kumm/dpa

Ob man von hier den Weg erst in die Vergangenheit, dann in die Gegenwart lenkt oder umgekehrt, sei letztlich egal, hieß es bei der Präsentation der Schau, und das stimmt auch so. Aber beginnen wir der Einfachheit halber doch im Gestern, es ist schließlich der Anlass des Ganzen.

Das heißt, genaugenommen beginnen wir im Vorgestern, denn das erste Objekt ist eine Videoinstallation, die grafisch verfolgt, wie sich Berlin seit 1820 Schritt für Schritt immer mehr aufgebläht hat, bis hin zum Big Bang vom 1. Oktober 1920.

Warum für die Hungerleider zahlen?

Womit damals nicht jeder einverstanden war, ja es gab sogar entschiedene Gegner und gleich nach der Vereinigung schon Tendenzen, sich von Berlin wieder zu lösen. Warum sollten wir Reichen im Westen die Hungerleider im Osten subventionieren, so fragte sich etwa mancher Charlottenburger, vom Spandauer Lokalpatriotismus ganz zu schweigen.

So zeigt eine Tafel grob die Verteilung von Pro- und Contra-Bezirken an – eine in der Ausstellung gern bemühte Technik, die gesammelten Informationen an den Mann und die Frau und diese dann noch zum Nachdenken über die von der Vergangenheit vielleicht gar nicht so verschiedene Gegenwart zu bringen.

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Videoinstallationen, Grafiken, Fotos und viele, immerhin erfreulich kurze Texte – das sind die dominierenden Medien, derer man sich in „Chaos & Aufbruch“ bedient, weniger sind es die mal mehr, mal weniger spektakulären Objekte, von denen es nur rund 100 gibt, was nicht gerade überladen wirkt.

Einige besitzen allerdings erheblichen Schauwert, so etwa der vom Technikmuseum ausgeliehene Hanomag 2/10 PS von 1925, der erste deutsche am Fließband produzierte Kleinwagen, wegen seiner nicht gerade schnittigen Form auch „Kommissbrot“ genannt. Man musste ihn hochkant ins Gebäude bugsieren, für solche Schaustücke wurde es nicht geplant.

Baustoff Holz. Wie kann Großstadt gelingen? Diese Frage stellt sich heute wie schon vor 100 Jahren.
Baustoff Holz. Wie kann Großstadt gelingen? Diese Frage stellt sich heute wie schon vor 100 Jahren.

© Wolfgang Kumm/dpa

Auch einen echten Koffer von Ernst Reuter bekommt man nicht jeden Tag zu sehen, der einst familienintern sogar als „Vatis Amerikakoffer“ gehortet wurde, hatte ihn doch Reuter, damals noch Stadtrat fürs Verkehrswesen, 1929 auf der Amerikareise des Magistrats dabei.

Oberbürgermeister war damals Gustav Böß, der bald danach wegen des Sklarek-Skandals um einen seiner Frau allzu wohlfeil verkauften Pelzmantel zurücktreten musste, eine von den Nazis propagandistisch ausgeschlachtete Affäre, die gemeinsam mit der auch für Berlin fatalen Weltwirtschaftskrise gleichsam den Schlusspunkt unter dem 1920 begonnenen Aufwärtstrend der Stadt setzte und nun auch den historischen Teil der Ausstellung beschließt. 1933 wurde die Idee von Groß-Berlin dann ersetzt durch die eines nach dem Führerprinzip gelenkten Staatszentrums.

Und auf dem Hochhaus einen Bolzplatz

In der aktuellen Zeitebene finden sich die zuvor historisch beleuchteten Themenfelder Wohnen, Verkehr, Verwaltung, Umland, Erholungsräume und Mentalität als „Impulsprojekte“ wieder, etwa als Interviewreihe mit Personen, die sich für eine moderne Stadtverwaltung einsetzen, oder als Befragungen von Ex-Berlinern, die ihr Glück im Brandenburger Umland gesucht und nicht immer gefunden haben.

Und zu sehen sind auch die utopischen Entwürfe von 16- bis 18-Jährigen aus Kreuzberg, Tiergarten und Prenzlauer Berg, so ein begrüntes Hochhaus mit einem Bolzplatz auf dem Dach, ein Roboter-Haus oder auch einem Wohnzeppelin, hoch oben am Himmel über Berlin.

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