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© Kitty Kleist-Heinrich

Ausgrabungen: Berlin auf dem Weg ins Mittelalter

Archäologen stoßen auf immer neue Zeugen der alten Stadt. Und sie vermuten noch viel mehr Schätze im Untergrund.

Berlin – das ist die wachsende zukunftsträchtige Metropole. Sie hat nach Schätzung der Immobilienbranche allein im letzten Jahr über zehn Milliarden Euro an Investitionen aus aller Welt an sich gezogen. Eine moderne Stadt mit Blick nach vorn, mit einem der größten Entwicklungspotenziale Europas. Stets auf der Suche nach Neuem, ständig im Aufbau. Doch zunehmend drängt sich das historische Berlin ins Bild, weil Bauleute beim Ausheben von Gruben auf alte Reste stoßen, Skelette, Geräte und Mauerwerk der Vorfahren. Die Archäologen jubeln.

"ich fühle mich wie in die römische Kaiserzeit versetzt"

Nicht weit von der modernen Friedrichstraße und nur wenige Schritte von der lauten Gertraudenstraße entfernt,wird hinter Bauzäunen (noch nicht) das Fundament eines weiteren Neubaus gelegt. Hier entfaltet sich erst einmal ein kleines Troja, eine Baustelle der Wissenschaftler. Mauern und Brunnen sind ausgegraben und freigelegt. Und Tote. Allein über 1000 Skelette sind bisher auf dem Petriplatz in Mitte entdeckt worden. Jeanette Fester ist Anthropologin am Ort. Sie legt vorsichtig unter einem Zeltdach auf dem historischen Friedhofsgelände neben einer Kirchenmauer von 1380 ein Skelett nach dem anderen frei, von großen und von kleinen Menschen. „Ich bin im Mittelalter angekommen“, sagt sie. Das endet nur paar Zentimeter tiefer im Grundwasser. Wie aufgebahrt liegen die Zeugen des alten Berlin im Sand. Fünf verschiedene Kirchen standen seit dem frühen 13. Jahrhundert auf dem Gelände, es brannte häufig, auf dem Brandschutt wurden neue Kirchen gebaut, das letzte Gotteshaus, kriegszerstört, ließen Ost-Berliner Behörden bis 1964 abtragen, die Gertraudenstraße musste „hauptstädtisch“ breit werden.

Wie kleinstädtisch es auf dieser Urzelle Berlins, in Cölln, ausgesehen hat, ist auf den historischen Darstellungen der Bauzaun-Ausstellung zu besichtigen. Dahinter sind in natura die ausgegrabenen Reste der Cöllnischen Lateinschule von 1350 zu sehen, die an den Friedhof grenzte. Peter Fuchs, Archäologe beim Landesdenkmalamt, fühlt sich angesichts der Funde „wie in die römische Kaiserzeit versetzt. Ein Wunder, dass das alles noch erhalten ist.“ Eine Freifläche, von zwei Geschäftsbauten flankiert, soll entstehen, aber die Archäologie hat jetzt Vorrang, die freigelegten Schätze werden in die Neubauten integriert und als Museumsstücke zu besichtigen sein. Vor Ende nächsten Jahres kann vermutlich nicht gebaut werden. Auch die Breite Straße muss noch verengt werden.

Die Skelette der Vorfahren werden dokumentiert und gesichert, die Restaurierungswerkstatt des Museums für Vor- und Frühgeschichte bearbeitet die zerbrechlichen Funde, sie macht zuweilen auch Röntgenaufnahmen, um die Statik zu erkunden.. Gefunden wurden unter anderem Töpfe, Holzfässer, Drähte, Beschläge aus Bronze und Eisen.

Zufällig waren kürzlich beim Graben für eine Tiefgarage am Alexanderplatz die Reste einer über 300 Jahre alten preußischen Exerzierhalle entdeckt worden. Mit rund 50 Skeletten, denn hier war auch ein Friedhof, der 1713 angelegt und bereits um 1810 wieder geschlossen wurde. Bis Ostern soll die Grabung beendet sein. Die Bauleute wollen möglichst schnell mit der Tiefgarage beginnen und fürchten, dass sich die alten Berliner Knochen und Mauern dagegenstemmen. Unzählige Reste davon schlummern noch im Boden, nach Ansicht des Archäologen Fuchs ist in Berlin selten bis in die Tiefe enttrümmert worden. So erklärt sich, dass sich ein Skelett vom Petriplatz nur 60 Zentimeter unterm Asphalt fand.

Christine Wolf vom Landesdenkmalamt sieht darin aber auch eine Chance. „Solange die Reste in der Erde liegen, können sie nicht kaputtgehen“. Berlin, das sei auch die Stadt der Neuzeit-Archäologie, weil sich aus jüngerer Vergangenheit stets interessante Zeugen im Boden verborgen hielten. Auch vor dem ehemaligen Staatsratsgebäude am Schlossplatz wird demnächst gegraben, hier vermuten die Archäologen Reste eines alten Dominikanerklosters, aber auch Überbleibsel der alten Stadtmauer. Wie sie vor dem historischen Lokal „Zur letzten Instanz“ an der Waisenstraße zu sehen ist – und nicht nur Touristen beeindruckt, die einen derartigen alten Schatz fast neben dem modernen Alexa-Einkaufszentrum nicht erwarten. Gegraben wird nicht nur in der alten Mitte, die rund um den Hausvogteiplatz ihre einstigen Bau-Konturen wiedergewinnt, sondern auch in Biesdorf-Süd, wo es schon Funde aus der Mittelsteinzeit gegeben hat. Fast schon Tradition haben Grabungen im alten Kern von Spandau. Berlins Baumeister, witzeln die Archäologen, hätten in den letzten paar hundert Jahren aus Gründen der Sparsamkeit immer ein wenig gepfuscht, so dass Häuser nicht lange hielten. Das sei eben auch die Chance, Schätze im Boden zu entdecken. Wie etwa auch den kleinen Bärenkopf mit großen weíßen Zähnen und großen Knopfaugen. Der Bär gehörte zum Griff eines mittelalterlichen Steintopfes. „Wir finden, dieser Bär passt zu Berlin“, meinten die Archäologen vom Petriplatz.

Sie erklärten den Bären stolz zum Fund des Monats und zeigen ihn auf einem Foto der Bauzaun-Ausstellung. Die Hand, die ihn hält, hat auffallend dreckige Fingernägel, was die Archäologen aber gar nicht peinlich berührt. Die bringt das Wühlen in der Geschichte nun mal eben mit sich.

Christian van Lessen

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