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Ab unter den Tresen oder an die Tanne?

© Getty Images/iStockphoto

Ausgehen zu Heiligabend: Tanne oder Tresen? Ein Pro und Contra

Heiligabend mit Freunden ausgehen oder bei der Familie bleiben? Flucht in die Bar oder Gemütlichkeit unterm Weihnachtsbaum? Zwei Meinungen.

Pro: Alle bleiben im heiligen Stall. Warum so dogmatisch?

Heiligabend. Von manchen wird der Begriff ja wörtlich genommen, auch von porentief durchsäkularisierten Atheisten. Da heißt es am 24. Dezember: Heilige Familie – und alle bleiben im Stall. Wer sich rausschleicht, ist ein Ketzer. Dabei gibt es schon genug Dogmen im Alltag und darüber hinaus gute Gründe, diesen Tag in einer Bar, meinetwegen auch im Club, ausklingen zu lassen: Am Vormittag erreicht der Stress, der sich in den Wochen zuvor mit Geschenkekauf, Küchenschlachten und Weihnachtsfeiern im Büro, im Sportverein, beim Häkelkurs drohend aufgebaut hat, seinen Höhepunkt.

Mütter verlieren die Nerven, weil die Spitze für den Weihnachtsbaum unauffindbar ist. Väter schneiden sich beim Kartoffelschälen (Salat für neun Personen) die Fingerkuppe gleich mit ab. Onkel besorgen im Einkaufscenter um die Ecke atemlos Last-Minute-Geschenke (Parfümset mit Duschgel und Lotion, fertig verpackt). Omas rufen vor ihrem Eintreffen fünf Mal an, um zu fragen, ob sie nicht doch bei den Vorbereitungen helfen sollen oder ob nicht kurz jemand vorbeikommen könnte (der Computer blinkt so komisch).

Ganz schön, aber auch ganz schön anstrengend

Sitzen alle am Tisch, gibt es die volle Familiendröhnung, vom frühen Nachmittag bis zum späten Abend: Gelächter, kleinere und größere Krisen, Essen, ein Puppenhaus für die 14-Jährige, Kritik am Baumschmuck, noch mehr Essen, jemand Lust auf Skat? In vielen Familien wird um 16 Uhr das erste Mal angestoßen, das zieht sich dann gern bis in den späten Abend. Ganz schön ist das, aber es ist nun mal auch ganz schön anstrengend.

Dafür muss man sich nicht schämen, finde ich. Eine kleine Auszeit kann Wunder wirken: Wenn Kinder und Großeltern ermattet ins Bett sinken, bleiben den Jüngeren und Mittelalten mindestens ein paar Stunden, um die Würstchen und das Erlebte zu verdauen. Also ab in die Kneipe, wo man die ältesten Freunde aus Schulzeiten trifft. Das gilt für Zugezogene, die Weihnachten in Stuttgart oder an der Ostsee verbringen, genauso wie für die Ur-Berliner. Eine gute Gelegenheit, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen: Wie geht’s dir so? Wohnst du noch in Leipzig? Ist das da ein graues Haar?

In dem Nest, aus dem ich komme, gehört das für viele zu Weihnachten einfach dazu. Die Wirte machen den Umsatz ihres Jahres mit Heimkehrern, die sich in seliger Nostalgie in die Arme fallen und, klar, auch den Familienteil des Tages auswerten. Da stellt man dann beruhigt fest, dass Weihnachten bei den anderen ebenso eine Veranstaltung zwischen Wahnsinn und Wonne ist. Und dass man, gerade mit Freunden, am besten darüber lachen kann.

Jedes Jahr gibt es ein paar Bekannte, die unter Androhung von Enterbung nicht dabei sein können oder partout nicht wollen und das Heim hüten, auch wenn die ganze Sippe schläft. Als ob Weihnachten nach Heiligabend vorbei wäre! Am nächsten Tag geht es schließlich weiter. Und am Tag darauf auch. Und die, die abends ausgehen, kehren ja wieder zurück in den Stall, zurück zur Heiligen Familie. Angie Pohlers

Contra: Für Weihnachten kämpfen, statt in die Bar zu fliehen

Wahrscheinlich wird an keinem Abend des Jahres so viel gestritten wie Weihnachten. Die Gans schmeckt nicht. Wieder zu trocken. Irgendwer hat sein Geschenk vergessen. Mama ruft irgendwas, das absolut niemand versteht. Und kurz vor der Bescherung liegt statt herrlichen Plätzchendufts meist ein schüchternes Wölkchen Stressschweiß in der Luft. Oma erzählt einen vom Krieg und in der Küche brennt der Nachtisch an. Besinnlichkeit? Von wegen.

So ein paar Stunden am Tresen würden da Abhilfe schaffen. Sich mit guten Freunden am Jahresende noch einmal in den Armen liegen, Brandlöcher machen, Freudentränen lachen, Schnäpse kippen – was für ein Riesenspaß. Und am Weihnachtsmorgen wankt es sich wahrscheinlich besonders gemütlich nach Hause. Schöner Traum. Trotzdem: Ich würde jeden Streit unterm Tannenbaum dem Pfeffi in der Kneipe vorziehen.

Völlig egal, ob jemand an das Jesuskind glaubt, an den Weihnachtsmann oder einfach Bock auf lässige Geschenke hat: Der 24. Dezember lebt im Kern davon, dass die Familie zusammenkommt, auf das Jahr zurückblickt, zusammen nochmal weint, lacht – und streitet. Bei den einen Familien funktioniert das besser, bei anderen schlechter. Man kann es sich halt nicht aussuchen.

Für manche sind Freunde so etwas wie eine zweite Familie. Das ist wunderbar. Aber warum kann es nicht diesen einen Abend geben, der ausschließlich für die nervigen Nachfragen nach Beziehungsstand und Jobstatus reserviert ist und für die Krankenberichte der Ü-60-Fraktion?

Spätabends, wenn allen der Magen drückt, ist das Schlimmste eh ausgestanden

Statt sich aus der Verantwortung zu stehlen und die, die das Schicksal zusammengeführt hat, allein zu lassen, warum nicht versuchen, es dieses Jahr besser zu machen als sonst? Für Weihnachten kämpfen, statt zu fliehen.

Das lohnt sich, echt. Weil der Kampf ja nicht nur für ein (mehr oder weniger) blödes Fest ausgefochten wird. Das Weihnachtsfest ist so etwas wie ein Familien-Seismograph. Wenn jeder daran mitarbeitet, sich am 24. Dezember zu verstehen, heißt das: Bei allen Differenzen wollen wir dieses recht alternativlose Ding hier gut über die Bühne bringen. Muss ja!

Sicher, meine Oma freut es, wenn sie diese eine Geschichte aus ihrer Jugend ein fünftes Mal erzählen kann. Der Nachtisch hätte vielleicht gerettet werden können und paar lustige Geschichtchen aus dem Freundeskreis haben meine Familie noch von der trockensten Gans abgelenkt.

Spätabends, wenn allen der Magen drückt, ist das Schlimmste eh ausgestanden. Mit letzter Kraft greift Mama zur Fernbedienung. Jetzt ein Weihnachtsfilm. Oma liest in ihrer Zeitschrift. Opa und Papa schauen sich die 90-minütige Fotoslideshow aller Sommerurlaubsbilder der letzten fünf Jahre an (zweimal). Die Enkel schlafen schon längst. Nach einer halben Stunde ist auch Mama über ihrem Rotweinglas weggenickt.

In Gedanken proste ich dann meinen Freunden am Tresen zu. Die haben es sicher schön – aber hier, neben der Tanne, ist’s grad ein klitzekleines bisschen schöner. Und morgen, da stoßen wir an! Julius Betschka

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