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Trotz Abstand: Fälle von Corona gab es zuletzt im Abgeordnetenhaus immer wieder.

© Christoph Soeder

Aus Sorge vor Corona: Berliner Abgeordnetenhaus erwägt Änderung der Verfassung

Wie bleibt das Parlament handlungsfähig, wenn Abgeordnete an Corona erkranken? In Berlin sorgt das seit Monaten für Streit. Nun zeichnet sich eine Lösung ab.

Es kommt nicht oft vor, dass sich alle im Parlament einig sind. Zuletzt war genau das der Fall. Die Forderung, nicht der Senat allein, sondern auch die gewählten Abgeordneten müssten über Corona-Verordnungen und damit verbundene Eingriffe in den Alltag der Bevölkerung entscheiden können, unterstützten Vertreter sämtlicher Fraktionen von Linke bis AfD.

Auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) schloss sich dem an, kam einem von der Opposition angekündigten Antrag auf Sondersitzung des Parlaments zuvor und hielt dort eine Regierungserklärung zum Lockdown-light. Das war am 1. November.

Wenig später war klar: Das Vorgehen hat Tücken, schließlich macht das Virus nicht vor dem Plenarsaal halt. Weil eine später positiv auf das Coronavirus getestete Abgeordnete der Grünen-Fraktion an der Sondersitzung teilgenommen hatte, schlugen im Anschluss daran die Corona-WarnApps zahlreicher Abgeordneter rot aus - auch in der SPD-Fraktion gab es kurz darauf einen positiven Fall. Vor der darauffolgenden Plenarsitzung am vergangenen Donnerstag schien die Mehrheit der Koalitionsfraktionen in Gefahr, ein Antrag der Linken  wurde von der Tagesordnung abgesetzt – sicherheitshalber.

Torsten Schneider, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, nutzte diesen von einigen als „Superspreader“ bezeichneten Vorgang nun erneut und drängt auf eine Krisenlösung. Nachdem er schon im Frühjahr mit drastischen Bildern vor der Einstellung des Parlamentsbetriebes gewarnt und Maßnahmen bis hin zur Einsetzung eines Notparlaments vorgeschlagen hatte, legte er zu Wochenbeginn nach.

In einem an seine Amtskollegen adressierten Schreiben appellierte Schneider an die Bereitschaft zur Sicherstellung der Beschlussfähigkeit des Abgeordnetenhauses und betonte: „Die Pandemie kann nicht ohne Rechtsgrundlagen und ohne Sanktionskanon bekämpft werden, die Handlungsobliegenheit der Legislative ist dringend.“ Ohne sie beim Namen zu nennen, kritisierte Schneider Grüne und Linke für deren Zurückhaltung und erklärte: „Die SPD-Fraktion steht nach wie vor für jede rechtlich belastbare Entscheidung bereit.“ In einem Radiointerview vom Mittwoch prognostizierte Schneider sogar, ohne Krisenlösung werde das Abgeordnetenhaus nicht bis Weihnachten durchhalten.

Verfassung: Mindestens 50 Prozent müssen anwesend sein

Kern der Debatte: Das in der Verfassung verankerte Quorum für die Beschlussfähigkeit des Parlaments. Darin heißt es: „Das Abgeordnetenhaus ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte der gewählten Abgeordneten anwesend ist.“ Bei 160 Abgeordneten müssen mindestens 81 von ihnen im Saal sein. Für die Verfassungsänderung wiederum braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Ziel aller Beteiligten ist dem Vernehmen nach sogar eine einvernehmliche Lösung. Genau diese aber fehlt - seit Monaten.

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Nachdem SPD, CDU und FDP ihre Bereitschaft zur Verfassungsänderung signalisiert und in Person des FDP-Abgeordneten Paul Fresdorf Grünen und Linken eine „Blockadehaltung“ vorgeworfen hatten, zeichnete sich am Mittwoch Verhandlungsbereitschaft ab. Steffen Zillich, parlamentarischer Geschäftsführer der Linken-Fraktion, sprach zwar von einer „schwierigen Abwägung“, erklärte aber: „In der gegenwärtigen Situation können wir gar nicht anders, als zu einer Verabredung zu kommen.“

Noch gibt es Kritik und gegenseitige Vorwürfe

Daniel Wesener, Amtskollege Zillichs bei den Grünen, bezeichnete die Option der Verfassungsänderung  als „Ultima Ratio“, sagte aber dennoch: „Uns geht es um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, wir werden uns Verhandlungen darüber nicht verschließen.“ Beide kritisierten die AfD dafür, eine im Frühjahr getroffene Vereinbarung zur Verkleinerung der Ausschüsse unter Beachtung der Mehrheitsverhältnisse, das sogenannten Pairing, zuletzt aufgekündigt zu haben.

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Den Vorwurf an FDP und CDU, die Fortsetzung des Pairing von der Zustimmung zur Verfassungsänderung abhängig gemacht zu haben, wies Heiko Melzer (CDU) entschieden zurück und erklärte seinerseits: „Grüne und Linke können sich nicht länger wegducken.“

Schnelltests sollen mehr Sicherheit bringen

Den von Wesener und Zillich favorisierten Alternativen zur Präsenzsitzung wie digitalen Abstimmungen über Gesetze, beispielsweise per Videokonferenz, hatte der wissenschaftliche Parlamentsdienst des Abgeordnetenhauses bereits im April eine Absage erteilt. Diese seien „verfassungsrechtlich unzulässig“, heißt es in einem dem Tagesspiegel vorliegenden Gutachten.

Unabhängig vom Ausgang der am Donnerstagvormittag stattfindenden Sitzung des Krisenstabs im Abgeordnetenhaus bahnt sich eine Maßnahme zum Schutz von Abgeordneten und Parlamentsbetrieb jetzt schon an: Künftig sollen alle Abgeordneten im Vorfeld einer Plenarsitzung einen Corona-Schnelltest machen können. Das zu ermöglichen, sei Ziel des Parlamentspräsidenten Ralf Wieland (SPD), erklärte Ansgar Hinz, Sprecher des Abgeordnetenhauses, am Mittwoch. Es gehe „nur noch um die Modalitäten“, die Freigabe der Kapazitäten seitens der Gesundheitsverwaltung sei bereits erfolgt, ergänzte der Sprecher.

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