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Die Schrifstellerin und Journalistin Gabriele Tergit.

© Jens Brüning c/o Schöffling & Co

Aus dem Tagesspiegel-Archiv: Land ohne Fahnen

Die Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit schrieb 1947 im Tagesspiegel vergleichend über Großbritannien und Deutschland.

Alle älteren Leute werden sich erinnern, daß Berlin im August 1914 von Fahnen überflutet war. In den Arbeitervierteln waren drei bis vier schwarz-weiß-rote Fähnlein an jedem der Tausende von eisernen Baikonen befestigt. Es war die tollste Festdekoration, die man sich vorstellen kann.

Auch im Sommer 1940 war Deutschland siegestrunken, die Fahnen wehten, die Fanfaren bliesen, die Kanonen feuerten. Wer dachte in seinem Herzen, daß man keine Vorschußlorbeeren nimmt?

Erst in England lernte ich, daß das alles ganz anders sein kann. Europa lag unter dem schweren Alp der Hitlerherrschaft, Amerika und Rußland waren neutral, England stand allein, London wurde Nacht für Nacht bombardiert. Da siegte Wavell mit ganz geringen Kräften über die italienische Armee in Afrika. Das war sehr viel: das erste Zeichen, daß die „Achse" nicht unbesiegbar war, ein Hoffnungsstrahl, daß nicht die ganze Welt eine einzige große Gaskammer würde. Es wäre Grund genug vorhanden gewesen für ein paar Fahnen. Aber kein Mensch in England kam auf die Idee. Die Deutschen zogen sich über ganz Afrika zurück. Die Engländer landeten in Sizilien. Aber auf die Idee zu flaggen kam in England kein Mensch.

Ganz England war ein einziges Kriegslager. Die amerikanische Uniform gehörte zum Straßenbild wie die riesigen Tanks, die endlos durch London rollten. Die Spannung wuchs, und dann landeten sie auf dem Kontinent. Flaggte London? So wenig wie nach El Alamein, so wenig wie nach der Schlacht von Britannien. Es wurden auch keine Kanonenschüsse abgefeuert, keine Fanfaren geblasen, nie, nicht ein einziges Mal. Die ersten Fahnen waren die auf Halbmast beim Tode Roosevelts.

In England wurde nicht geflaggt weil die Engländer einen Krieg für ein Unglück halten, immer und überall. Flaggt man bei einem Bergwerksunglück? Flaggt man bei einem Erdbeben? Die Engländer empfinden einen Krieg nicht anders. Eine Stadt zu erobern, ein Land zu erobern, gilt in englischen Augen als eine schwierige Aufgabe, nicht als Triumph.

Es ist auch bei den Deutschen, früher nicht anders gewesen. Kaiser Friedrich, mit dem das beste Deutschland begraben wurde, der in England „Frederic the Noble" genannt wird, hat den Krieg von 1870, diesen beispiellos kurzen und siegreichen Krieg, „ein nationales Unglück" genannt. Erst mit Wilhelm II. begann jenes Weltunglück, die „schimmernde Wehr" und der „Waffenglanz", jene verantwortungslose Spielerei mit Krieg und Sieg, mit „wehrlos, ehrlos". Professor Wilken schrieb in seiner griechischen Geschichte, dem Standardwerk, das in den zwanziger Jahren erschien, über die Babylonier: „Ein schöner Zug ist es, daß nur dem Helden, der im Kampfe gefallen ist, ein besseres Los im Jenseits winkt. Wie irrig war es doch, wenn man gelegentlich die Babylonier zu Pazifisten machte, die nur dem Ausbau der Kultur gelebt hätten!"

Genau das ist der Punkt, den Engländer nicht verstehen. Universitätsprofessoren des Griechischen sind in England die reinsten Humanisten. Sie treten immer und überall für die Schwachen ein, 1933 für die Juden, 1947 für die Deutschen. Sie sind gegen die Gewalt, gegen die Roheit, für den Ausbau der Kultur.

Die Engländer wissen, daß die Welt beherrscht ist von miteinander streitenden und widerstrebenden Kräften. Sie wissen, in dieser Welt wird nicht mit Veilchen geschossen. Sie glauben, daß man, wenn es not tut, bereit sein muß, für etwas zu kämpfen. Aber sie berauschen sich nicht an diesem Kampfe, auch nicht, wenn sie siegen.

Gabriele Tergit

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