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Armut

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Armut: Rechnen mit jedem Cent

Abgeschlossenes Studium und einen Job: Die Berlinerin Nora Gentner und ihre Familie kommen trotzdem nur mit Hartz IV über die Runden.

Plötzlich platzt Lara (alle Namen geändert) mit einer Zwei-Euro-Münze herein. „Hab ich auf dem Flur gefunden, Mami“, flüstert das Mädchen und schmiegt sich an ihre Mutter. Lara flunkert, denn sonst könnte sie ihrer Mutter die Münze nicht zuschustern. Der Trick muss ihr vorhin am Küchentisch eingefallen sein. „Aber Mami, wenn du kein Geld hast, warum nimmst du es nie an, wenn ich dir was geben will?“, sagt sie fast ein wenig empört.

Nach ein paar Streicheleinheiten saust der kleine Wirbelwind wieder raus aus der Küche, ins Bad. Dort pustet die Siebenjährige ausgerechnet Seifenblasen. Ihre Mutter Nora Gentner kann jetzt mit ihrer Geschichte fortfahren. Sie handelt davon, dass das Geld eben nicht einfach herumliegt. Nicht, wenn man die Welt der Illusionen zum Beruf gewählt hat, und als Alleinerziehende schon gar nicht. Nora Gentner arbeitet freiberuflich als Theaterpädagogin. Über die Runden kommt sie aber nur mit Hilfe von Arbeitslosengeld II. Man kann auch „Hartz IV“ sagen, dann zerplatzt die letzte Illusion.

Geld liegt nirgends in der etwa 90 Quadratmeter großen Dreizimmerwohnung, in der auch noch die ältere Tochter Sara lebt. Allerdings steckt ein zu einem Fächer gefalteter Fünf-Euro-Schein im Blumenstrauß, den die Großmutter Sara zum 18. Geburtstag schenkte.

Nora Gentner, eine selbstsichere Akademikerin um die 40, knallt einen Papierstapel auf den Tisch, der so hoch ist wie der gedeckte Apfelkuchen daneben. „Das kam alles in einem Monat“, berichtet die Frau. Hartz IV und selbständige Arbeit bedeuten eine Menge Schreibkram.

Was den Dreien im Monat zum Leben bleibt, berechnet in der Regel der Staat. Knapp 1270 Euro steht als Summe unter einem der letzten Bescheide, bevor der Gesetzgeber den Regelsatz um zwei Euro auf 347 Euro anhob. Im Juni standen der Mutter also 345 Euro zu, Sara 276 Euro, Lara 207 Euro. Hinzu kamen für Unterkunft, Heizung und als Zuschlag für Alleinerziehende rund 440 Euro. Davon gehen fix knapp 380 Euro Kaltmiete ab, außerdem die Stromkosten und der Beitrag für die Künstlersozialkasse. Dort möchte Frau Gentner in jedem Fall versichert bleiben, wofür sie Einnahmen aus freier Arbeit nachweisen muss. Das Dilemma: Ihr Verdienst samt der Unterhaltszahlungen ihres Ex-Mannes liegt meist unterhalb des Minimums. Nur selten kommt die Familie über die Summe auf den Bescheiden hinaus. Nicht angerechnet wird ihr lediglich ein Freibetrag von 165 Euro.

Am Ende einer Woche, in der Politiker über die fünf Jahre alten Sozialreformen des Peter Hartz und die wachsende Armut von Familien diskutierten, schaut Nora Gentner nachdenklich durch die roten Ränder ihrer Brille und nestelt an einer ihrer dunkelblonden Locken. Dass sie nur einmal im Jahr zum Friseur geht, sieht man nicht – da hatte sie mit ihrer natürlichen Haarpracht Glück.

Überhaupt ist erst auf den zweiten Blick zu erkennen, dass das Geld knapp ist. Eine Vase mit Rosen, eine frische Ananas, Dinkelbrot vom Bäcker: Gentners wohnen wie eine Durchschnittsfamilie in den bürgerlichen Berliner Kiezen. Das zeigt aber nur, wie sich die Bedürftigkeit in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet – in einer Stadt, in der 446 000 Menschen auf Arbeitslosengeld II und weitere152 000 auf Sozialgeld angewiesen sind.

„Früher konnten wir uns doch auch nicht viel mehr leisten“, meint Sara. „Da haben wir zum Beispiel den Käse von der Theke genommen, nicht den abgepackten“, wendet ihre Mutter ein. Nora Gentner kauft ihre Lebensmittel jetzt im Discounter, Bioladen ist nicht drin. Manchmal nimmt sie auch etwas an einer kirchlichen Ausgabestelle für Menschen in Not mit. „Aber nur selten, denn da ist das Gemüse nicht frisch“, sagt sie.

In den Ferien ging es dieses Jahr zum Zelten nach Dänemark: an die Küste mit der Mitfahrzentrale, übers Meer mit der Fähre und weiter mit dem Fahrrad. Mehr ließ die Urlaubskasse nicht zu. Nora Gentner trägt eine helle, luftige Bluse und Jeans. Ihre Kleidung kauft sie gebraucht.

Zwei- bis dreimal im Monat geht sie mit Freundinnen ins Cafè. Dort leistet sie sich meist nur eine Tasse Kaffee, auch wenn sich die anderen ein Frühstück oder eine Mahlzeit gönnen. Das Leben mit Arbeitslosengeld II empfinde sie als ambivalent, sagt Nora Gentner. Die Unterstützung durch den Staat sichere einerseits ihre Existenz. Andererseits ist die viel beschworene Armutsfalle tatsächlich zugeschnappt. Dass sie mit ihrer freiberuflichen Tätigkeit dauerhaft über die Hartz-IV-Grenze hinauskommt, ist nicht absehbar. In ihrem Beruf sei das fast unmöglich, sagt die Frau. „Aber ich habe gemerkt, dass das genau das ist, was ich machen will.“ Theaterprojekte mit Kindern oder Tätigkeiten als Dozentin – derlei Arbeit macht ihr Spaß. Einige Schulen und Bühnen beschäftigen sie regelmäßig, ansonsten sucht sie ständig nach größeren Projekten, nur gelegentlich mit Erfolg. So schwankt ihre Arbeitszeit von 20 bis 50 Stunden in der Woche und ihr Verdienst entsprechend.

Manche denken immer noch, dass Hartz-IV-Empfänger an ihrem Los selbst schuld sind. Und einen Fehler hat Nora Gentner wirklich gemacht. Bis Frühjahr 2005 hatte sie einen festen Job, der vor allem aus Verwaltungstätigkeiten bestand und sie nicht ausfüllte. „Deswegen habe ich mich dummerweise kündigen lassen“, bereut sie heute.

Im Anschluss lebte sie von Arbeitslosengeld I. So schlecht sei das eigentlich nicht gewesen, meint Frau Gentner. Sie setzte den Bezug der Unterstützung immer dann aus, wenn sie Arbeit auf Zeit fand. „Diese Regelung finde ich richtig gut.“ Das zögerte das Schicksal hinaus, vor dem sie ständig Angst hatte und das vor einem Jahr doch eintrat: Hartz IV.

Nora Gentner sagt, sie fühle sich gegängelt durch den Zwang, jeden Cent genau abzurechnen und die ständigen Behördengänge. „Ich komme mir dort schnell ganz klein vor und glaube, alles falsch zu machen.“ Außerdem sieht sei sich in Grauzonen gedrängt. Manchmal bietet ein Auftraggeber an, sie in Bar zu bezahlen. Da fällt es dann schwer, zu widerstehen und die Summe tatsächlich zu verbuchen. Ein Unglück ist, wenn mehrere Honorare zeitgleich überwiesen werden. Dann springt sie kurzzeitig über die 1270-Euro-Hürde und hat für einen Monat mehr Geld als sonst. Auf staatliche Unterstützung muss sie dann verzichten, der Bedürftigkeit ist sie nur scheinbar entflohen.

Trotz allem strahlt Frau Gentner Offenheit und Lebensfreude aus. Sie kennt viele, denen es genauso geht, „tolle, intelligente, kreative Leute“. Im Wissen, nicht alleine zu sein, lässt sich die Situation einerseits leichter ertragen. Andererseits zeigt sich dadurch, dass die Armut überall lauert.

Am meisten quält es Frau Gentner, wenn die Not auf die Kinder durchschlägt. Kürzlich gab es Knatsch mit Sara. Die wollte jobben gehen. Ihr Lohn hätte aber mit der Hartz-IV-Unterstützung verrechnet werden müssen, am Ende wäre fast nichts übrig geblieben. Es hagelte Vorwürfe der Tochter. Sara hasst es auch, wenn ihre Mutter in der Öffentlichkeit über das Thema redet. Deswegen lässt sich die Familie auch nicht fotografieren. Ihre Mitschüler machen Witze über die Armut und denken bei Hartz IV an Fernsehberichte über verwahrloste Familien. Davon sind Gentners weit entfernt. Bildung ist der Mutter wichtig, die pfiffige Lara scheint Gleichaltrigen um Monate voraus, Sara macht in einem Jahr Abitur. Und doch verheimlicht sie die finanzielle Lage ihrer Familie lieber.

250 Euro hat Sara im Monat zur Verfügung. Die Summe bessert sie sich mit Gelegenheitsarbeiten auf, wovon der Staat nichts weiß. Sie lebt in einer Welt der Gegensätze und der Zukunftsangst. „Meine beste Freundin lebt in einem Haus mit Pool“, erzählt sie. Deren Eltern könnten sie auch nach dem Abitur unterstützen, ihre Mutter vermutlich nicht. Sara macht sich da keine Illusionen und denkt weit voraus. Sie hat ausgerechnet, dass die angestrebte Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychoanalytikerin 30000 Euro kostet. Davor muss sie aber erst einige Jahre studieren. „Hast du Halsweh“, fragt Frau Gentner ihre Tochter. Sara trägt den grüngestreiften Schal, den die Oma ihr kürzlich zum Geburtstag geschenkt hat. Wenigstens das wird vom Amt nicht angerechnet.Werner Kurzlechner

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