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Nikolaiviertel

© Mike Wolff

Archäologie: Versunkene Mitte

Ein neues Buch erzählt von den Grabungen am Petriplatz, der Urzelle Berlins.

Berlin hat kein Gedächtnis. Oder nur ein sehr oberflächliches. „1,5 Meter unter der Erde liegt das Mittelalter“, sagt Claudia Melisch, Leiterin der Grabungen am Petriplatz in Mitte. Darunter kommt dann nur noch Grundwasser. Aber auch das hat sein Gutes, denn der historische Balken, der Berlin um ein paar Jahrzehnte älter macht, wurde im Grundwasser bestens konserviert.

Der Balken, datiert auf das Jahr 1192, lag in einem Keller unter dem Petriplatz. Dort wird seit dem Frühjahr 2007 gegraben. Einmal im Monat gibt es eine öffentliche Führung, und dabei stellte Claudia Melisch fest, dass viele Berliner nicht wissen, auf welchem Boden sie sich eigentlich befinden. Deshalb gibt es jetzt ein neues Buch über den Ursprungsort Berlins – den Platz an der um 1960 abgerissenen St. Petri-Kirche, direkt an der Ost-West-Magistrale Gertraudenstraße.

In Form eines Stadtrundgangs werden die wenigen Spuren erläutert, die auf Berlins alte Zwillingsschwester hinweisen: „Cölln“, in frühen Schriften auch als „Colonia“ bezeichnet. „Cölln“, zwischen Kupfergraben und Spree gelegen, wurde früher besiedelt als Berlin auf der östlichen Spreeseite. Die erste Erwähnung in einer Urkunde datiert aus dem Jahr 1237 - daran orientierten sich bislang auch die Feiern zum Stadtjubiläum.

Berlin, bzw. Cölln, ist aber mindestens 30 Jahre älter, sagt Melisch. Näheres sollen die Untersuchungen der Skelette ergeben, die am Kirchplatz gefunden wurden, es sind rund 700. Gegraben wird noch bis in den Herbst, dann beginnen die ersten Bauarbeiten. Der Petriplatz - zuletzt ein schnöder Parkplatz - soll wieder ein richtiger Stadtplatz werden. Gertraudenstraße und Breite Straße werden enger gefasst, so dass der historische Grundriss wieder deutlich wird. Die Petrikirche wird allerdings nicht wiederaufgebaut. Auf dem Grabungsfeld zwischen Breite Straße und Kleiner Gertraudenstraße stand früher das gesamte Zentrum von Cölln, das alte Rathaus, eine Lateinschule, das Gymnasium, verschiedene Wohn- und Geschäftshäuser sowie die Petrikirche und der zugehörige Friedhof. Auf dem Grundriss des Rathauses an der Breiten Straße entstand später das „Warenhaus Rudolph Hertzog“.

Zwischen den Ursprüngen im 13. Jahrhundert und 1960 wurde die Petrikirche fünfmal neugebaut. Der verheerendste Brand war 1730 - der gerade errichtete Kirchturm fiel in sich zusammen. Auch die anliegenden Schulen wurden zerstört. Vier Jahre später war die neue Petrikirche fertig, aber der Turm stürzte erneut ein, diesmal wegen der Konstruktionsmängel. Den Zweiten Weltkrieg überlebte die Kirche relativ unbeschadet, erst zum Ende hin erhielt sie eine militärische Bedeutung, als Beobachtungsposten der SS. Die anrückenden Rotarmisten nahmen den Turm unter Beschuss, auf dem Rückzug setzte die SS den Bau in Brand.

Das Alt-Cöllner Petriviertel existiert kaum noch im Bewusstsein der Berliner, obwohl es historisch bedeutender ist als das Alt-Berliner Nikolaiviertel. Die Buchautorinnen, Claudia Melisch und die Architekturhistorikerin Marina Wesner, wollen die versunkene „Stadtmitte“ wieder an die Oberfläche der Metropole zurückholen. Thomas Loy

Claudia Melisch, Marina Wesner: St. Petri-Kirche. Berlin Story Verlag 2008. 120 Seiten. 12,80 Euro

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