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Mutationen im Erbmaterial? Mit speziellen Medikamenten lassen sich Krebs-Gene ausschalten.

© pa/Angelika Warmuth/dpa

AOK Nordost ermöglicht Zugang zu Gen-Experten: Vernetzt gegen den Krebs

Die AOK Nordost ermöglicht Krebspatienten, sich über ihre Fachärzte mit Gen-Experten der Charité zu vernetzen. Das könnte eine Blaupause für die onkologische Versorgung der Zukunft sein. 

Wie bringt man Präzisionsmedizin und personalisierte Behandlung in die Fläche? Und zwar ohne teures Gießkannensystem mit kaum bezahlbaren Streuverlusten? Zum Beispiel über einen Verbund, von dem alle profitieren: Patienten, niedergelassene Ärzte, Krankenversicherer, hochspezialisierte Mediziner und Forschende.

Die AOK Nordost versucht sich gerade daran. Als erste gesetzliche Kasse hat sie im April für ihre Versicherten, die in fortgeschrittenem Stadium an Prostatakrebs erkrankt sind, einen Versorgungsvertrag mit dem „Netzwerk Hauptstadt Urologie“ geschlossen. 

Ziel des Vorstoßes: Krebspatienten in Berlin, aber auch und gerade in den Flächenländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, sollen unkomplizierten Zugang zu modernsten Therapien, Spezialisten-Erfahrung und aktuellen Forschungserkenntnissen der Charité erhalten. Und: Ihre eigentliche Behandlung bleibt dabei dennoch weiter in den Händen der vertrauten Mediziner:innen vor Ort. 

Dazu vernetzen sich Experten des Tumorzentrums der Berliner Charité unter Regie der Kasse mit möglichst vielen niedergelassenen Fachärzten der Region. Sie erhoffe sich von dem Versorgungsvertrag mit dem bereits bestehenden Netzwerk eine „Blaupause für die künftige onkologische Versorgung in Zeiten der Präzisionsmedizin“, sagte Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost, dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health.

Blaupause für onkologische Versorgung der Zukunft

Die moderne Krebsmedizin mache es in einigen Fällen möglich, das Leben von Patienten mit unheilbarem Prostatakrebs zu verlängern. „Und wir wollen grundsätzlich allen unseren Versicherten den Zugang dazu wohnortunabhängig ermöglichen.“ Für die Beteiligten ist der Aufwand überschaubar. Betroffene Patienten erhalten von ihren teilnehmenden Urologen einen Zugangscode. 

Mit diesem können sie sich – anonym und datenschutzkonform – auf einer digitalen Plattform einloggen, um dort ihre krankheitsbezogenen Daten einzugeben. Dabei geht es etwa um den Zeitpunkt von Prostata-Punktionen, histologische Ergebnisse und um Infos zu radiologischen Untersuchungen und zur bisherigen Therapie. 

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Ärztliche Experten der Charité werten diese Daten aus und entscheiden, was für den Patienten gerade am sinnvollsten ist: eine Gen-Sequenzierung, ein Platz im Rahmen einer laufenden Studie oder einfach erst mal nur die weitere Fortführung der bisherigen Therapie.

Entsprechende Empfehlungen gehen dann vom Tumorzentrum an die behandelnden Urologen. Und auch bei Patienten, für die aktuell weder eine Gen-Sequenzierung noch eine Studie in Frage kommt, bleiben die Daten in einem sogenannten „Basecamp“ gespeichert. 

In regelmäßigen Abständen wird überprüft, ob es nicht neue Medikamente oder Studien gibt, die für sie in Frage kommen könnten. Gleichzeitig haben die Patienten nach jeder neuen Untersuchung ihre Daten zu aktualisieren, die dann wieder neu geprüft werden. Daran werden sie auch regelmäßig erinnert.

Charité-Experten am „Gen-Schalter“

Das Versorgungsmodell lebe von gegenseitiger Interaktion, sagt Teichert. Die teilnehmenden Ärzte müssten nicht befürchten, ihre Patienten an Spezialisten in der Hauptstadt zu verlieren. Und die Erkrankten profitieren vom Zugang zu modernsten Therapieformen. 

Sie ersparen sich lange Wege und das oft mühsame Erschließen von Behandlungsstrukturen eines Großkrankenhauses, für das ihnen womöglich die Kraft fehlen würde. Die Kassen wiederum können es sich nicht leisten, dass die komplexen und oft überaus hochpreisigen Behandlungsmethoden einfach auf Verdacht und in die Breite offeriert werden. 

Individuelle Präzisionsmedizin sollte nur dort zum Einsatz kommen, „wo sie wirklich etwas bewirkt“, sagt Teichert. „Nur so werden wir auch in Zukunft unseren Versicherten die Möglichkeit bieten können, von neuen Methoden und Medikamenten zu profitieren.“

Fakt ist: Um abschätzen zu können, welches der neuen hochspeziellen Medikamente im individuellen Fall wirklich hilft, braucht es enormes Expertenwissen. So könnten bestimmte Gen-Veränderungen bei einigen Krebsarten und deren Behandlung eine entscheidende Rolle spielen, sagt Thorsten Schlomm, Direktor der Klinik für Urologie der Charité und Mitbegründer des neuen Netzwerks. 

Man könne sich das vorstellen wie einen Schaltmechanismus. Eine Mutation könne ein Krebs-Gen „anschalten“ – was dann zu Krebswachstum und zu Metastasen führe. Andersrum ließen sich diese „Gen-Schalter“ mit speziellen Medikamenten aber auch gezielt umlegen, das Krebs-Gen wäre damit dann wieder „ausgeschaltet“. Dazu müsse man die Gene in einem Tumor jedoch „sehr genau untersuchen und die Ergebnisse auch verstehen“.

Eine solche Sequenzierung sollte deshalb unbedingt über Ärzte und Pathologen mit großer Erfahrung erfolgen, so der Urologe. Nur so seien hilfreiche Handlungsempfehlungen möglich. Außerdem entwickle sich der medizinische Fortschritt auf diesem Gebiet rasant. 

„Das bedeutet, dass morgen eine neue Gen-Veränderung entdeckt werden könnte, die man mit Medikamenten beeinflussen kann. Oder dass ein neues Medikament für eine Mutation entwickelt wird, für die es bisher kein Medikament gab.“ Umso wichtiger sei ein ständiger Austausch unter Experten, wie im jetzt gestarteten „Netzwerk Hauptstadt Urologie“ vorgesehen.

Auch andere Krebsarten im Visier

Bei alldem gehe es um nachweisbaren Patientennutzen, betont AOK-Chefin Teichert. „Weg vom Gießkannenprinzip hin zu einer ganz gezielten Versorgung“ – um Schwerstkranken nicht noch durch unnötige Nebenwirkungen zu schaden, aber auch um Ressourcenverschwendung zu vermeiden und so nicht das Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenversicherung für alle in Gefahr zu bringen. 

Gründliche Evaluation ist insofern Kernbestandteil des neuen Versorgungsvertrags. Bei Erfolg könne die neue Versorgungsform „beispielgebend“ werden, hofft die Kassenchefin – und zwar nicht nur für die anderen Kassen im AOK-Verbund, sondern vielleicht auch für andere Versicherer. Die Resonanz der niedergelassenen Urologen, mit denen in der ersten „Rekrutierungsphase“ Gespräche geführt wurden, sei jedenfalls sehr positiv. Das Ziel sei möglichst viele Urologen in der Region für den Vertrag zu gewinnen.

Dabei besteht das Netzwerk selber schon eine ganze Weile. Genauer gesagt seit Februar 2020. Entstanden ist es aus einem anderen Projekt heraus, das Schlomm noch in seiner Zeit als wissenschaftlicher Direktor der Martini-Klinik am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf zusammen mit Forschern des Fraunhofer-Instituts in Darmstadt gestartet hatte, um Prostatakrebs-Patienten miteinander zu verbinden und ihnen einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Und es erfuhr auch bereits internationale Aufmerksamkeit. 

Ein „interessantes Projekt“, das sich mit dem anhaltenden Problem beschäftige, auch Krebspatienten „in der Peripherie“ erstklassige Versorgung zu bieten, lobte etwa Bettina Ryll, Gründerin des Melanoma Patient Network Europe. Auch Silke Gillessen, Senior Consultant in der Abteilung für Onkologie und Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen/Schweiz, nennt das Netzwerk einen „sehr guten Ansatz“. 

Das „Cancer World Magazine“ berichtete Anfang des Jahres ausführlich darüber. Durch den Versorgungsvertrag mit der AOK Nordost könnte das Projekt nochmal einen deutlichen Schub erhalten, immerhin versichert die Kasse mehr als 1,7 Millionen Menschen. 

Dabei gehen die Ambitionen der Initiatoren schon weiter. Man arbeite bereits daran, ein vergleichbares Netzwerk für Blasenkrebs-Patienten zu schaffen, bestätigte Schlomm. Frauen mit Tumoren in den Eierstöcken und der Gebärmutterschleimhaut könnten ebenfalls profitieren. Und natürlich denken die Charite-Experten längst auch an eine Ausweitung auf andere Regionen Deutschlands.

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