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Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) mit dem Wappen Berlin-Neuköllns am Kragen.

© imago/Christian Ditsch

Exklusiv

„Antisemitismus und Verschwörungstheorien“: Neuköllns Bürgermeister Hikel kritisiert Holocaust-Verharmloser und Clan-Gepöbel

Kabarettistin Idil Baydar stimmte Arafat Abou-Chaker zu, als er bei „Clubhouse“ Verschwörungstheorien verbreitet. Martin Hikel (SPD) ist wütend.

Verschwörungstheorien, Shoa-Vergleiche, „Lügenpresse“-Geraune. Die vor großem Publikum aufgestellte Behauptung, der Umgang mit Clankriminellen ähnele der Judenverfolgung, hat der Bürgermeister von Berlin-Neukölln scharf kritisiert. "Wenn ich über Clankriminalität rede, dann spreche ich von Tätern ohne jeden Respekt vor unserem demokratischen Rechtsstaat", sagte Bezirksbürgermeister Martin Hikel dem Tagesspiegel.

"Ich spreche von Menschen, die familiäre Strukturen als Schutzschild dafür nutzen, um weiter schwerkriminellen Geschäften nachzugehen", sagte der SPD-Politiker. "Das auszusprechen mag manchen Herren nicht gefallen – und es zeigt, dass wir einen wunden Punkt getroffen haben."

In der Audio-App Clubhouse hatte ein Teilnehmer in der Nacht zu Donnerstag zum Umgang mit mutmaßlichen Clan-Kriminellen gesagt: "Das erinnert mich ganz stark an, wie heißt das noch mal, Zweite-Weltkrieg-Geschichte, hier, wo sie auf die Juden geritten sind." Die Kabarettistin Idil Baydar reagierte: "Es ist die gleiche Story!" Arafat Abou-Chaker, der bekannteste Mann der aus Neukölln stammenden Großfamilie, warf ein: "Sippenhaft". Später sagte Abou-Chaker, alle Journalisten hätten Angst vor dem Axel-Springer-Verlag. Er widersprach aber ausdrücklich, dass es um die Leugnung des Holocausts gehe.

Die auch als Moderatorin gebuchte Berlinerin Baydar behauptete, die Polizei speise "Clancomputer mit allen Namen, die irgendwie arabisch klingen", was der Behörde mehr Geld brächte.

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Später gab Abou-Chaker allerlei Verschwörungsideologisches von sich: "Kein Journalismus besitzt die Eier, um die Wahrheit zu sagen. Weil keiner will sich mit dem Axel-Springer-Verlag anlegen." Baydar reagierte: "Da hast du recht." Und: "Die ganzen von der Springer-Presse, dieses Konzept ist das, von dem wir hier die ganze Zeit reden. Dämonisieren, zum Satan machen". Dies geschehe "auf dem Rücken von unseren Leuten" – wer immer gemeint gewesen sein könnte.

Später distanzierte sich Kabarettistin Baydar via Twitter

Nach Vorwürfen distanzierte sich Baydar via Twitter, sie habe die Clan-Debatte und die Shoa nicht vergleichen wollen: "Wenn der Eindruck entstanden ist, bedauere ich das sehr." SPD-Politiker Hikel warnte davor, "frontal die unabhängige Presse" anzugreifen. Und: "Wer auf den Zug von Antisemiten und Verschwörungstheoretikern aufspringt, fährt ins Verderben – übrigens ganz unabhängig davon, wie der Nachname lautet."

Kabarettistin Idil Baydar bei einer Kundgebung gegen Rechtsruck 2018. Nun entschuldigte sie sich für eine Debatte über Clans und die Shoa.
Kabarettistin Idil Baydar bei einer Kundgebung gegen Rechtsruck 2018. Nun entschuldigte sie sich für eine Debatte über Clans und die Shoa.

© Christoph Soeder/dpa

In Berlin moderierte Baydar für die Grünen und trat bei der Linkspartei auf. Der gegen seinen Willen meist als „Clan-Chef“ bezeichnete Abou-Chaker war 2020 wegen Körperverletzung und Bedrohung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Derzeit wird vor Berlins Landgericht gegen ihn und drei seiner Brüder verhandelt – unter anderem wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung zum Nachteil des Rappers Bushido. Abou-Chaker bestreitet die Vorwürfe.

[Organisierte Brutalität: Warum in Berlins Clan-Milieu öfter Schüsse fallen als bei anderen Kriminellen – weiterlesen bei Tagesspiegel Plus]

Zudem hatte sich schon am Mittwoch ein Mann des berüchtigten Remmo-Clans mit einem Holocaust-Vergleich an Neuköllns Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU) gerichtet: "Die uns heute verfolgen, sind die Nachkommen, die damals unsere jüdischen Mitbürger verfolgt und vernichtet haben!" In dem sozialen Netzwerk Instagram veröffentlichte der Remmo-Angehörige zudem ein Foto des NS-Vernichtungslagers Auschwitz und schrieb: "Es fing nicht mit Gaskammern an. Es fing an mit einer Politik, die von wir gegen die sprach." Neuköllns Bezirkschef Hikel sagte dazu: "Wer einen gewählten Stadtrat mit Auschwitz in Verbindung bringt, verlässt jeden demokratischen Diskurs und stellt sich nur weiter ins Abseits."

Anlass des Remmo-Posts ist ein Vorschlag Lieckes, die Villa der Neuköllner Großfamilie umzuwidmen: Die Remmos sollten raus, eine Sozialeinrichtung rein. Der Staat hatte das Haus eingezogen, weil es offenbar mit Beutegeld von einem erwerbslosen Sohn des Clans erworben worden war. Die Villa gehört zu jenen 77 Immobilien, die 2018 bei Geldwäsche-Ermittlungen beschlagnahmt wurden. Angehörige der Remmos wurden wegen diverser Taten verurteilt.

Der Deutsche Journalisten-Verband hatte insbesondere die Diskussion mit Kabarettistin Baydar und Abou-Chaker kritisiert: Wenn gegen Journalisten gehetzt, Verschwörungserzählungen verbreitet und der Holocaust verharmlost werde, müsse man womöglich prüfen, ob Straftaten vorliegen.

- Klarstellung: Die Aussagen von Arafat Abou-Chaker in der früheren Version dieses Beitrags sind konkretisiert worden. Abou-Chaker war zunächst missverstanden worden, weil er pauschal von „Sippenhaft“ sprach. Wir haben seine Aussagen präzisiert und deutlich gemacht, dass er den angeblichen Kampf gegen Clankriminelle nicht mit dem Holocaust verglichen hat und sich in dem Clubhouse-Talk ausdrücklich dagegen ausspricht, den Holocaust zu leugnen oder mit dem Kampf gegen die Clankriminalität zu vergleichen. Die Redaktion

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