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Berlin: Annemarie Tröger (Geb. 1939)

Als sie zurückkam, war sie müde. Eine Utopie ist kein Zuhause

Zu welcher Sehenswürdigkeit darf ich Sie fahren“, fragte der Taxifahrer in Kambodscha höflich. „Zur Müllkippe!“ – „Bitte?“ Er drehte sich zu dem Paar hinter ihm. Die Frau nickte lächelnd. „Zur Müllkippe!“

Zabbalin, die Müllmenschen, leben überall auf der Welt, Frauen und Kinder meist, die sich vom Müll ernähren, die am Müll sterben. Wer etwas über den Zustand unserer Zivilisation erfahren will, macht sich auf Müllkippen schneller kundig als in Bibliotheken.

„Ein Tempel mehr oder weniger, das muss ich nicht sehen.“ Das Tuol-Sleng- Genozid-Museum, das ehemalige Foltergefängnis der Roten Khmer, das musste sie sehen. Und das Revolutionsmuseum in Hanoi. In China diskutierte sie nächtelang über die Kulturrevolution. In Syrien ging sie auf den Markt, wollte einen Teppich kaufen, eine ganze Woche zogen sich die Verhandlungen hin, in der Zeit erfuhr sie alles über die Arbeit, die in diesem Teppich steckte. Von Aleppo aus fuhr sie mit ihrem Mann ins Umland, am frühen frischen Morgen, von den Hängen wehte der Geruch von Mimosen, mittags beim Bauern gab es Brot, getunkt in Olivenöl, und Landeskunde aus erster Hand. In Marokko diskutierte sie mit den Bäuerinnen über die Wassernutzung, redete ihnen Mut zu, sich nicht von den Männern überstimmen lassen. Wo auch immer sie war, sie hatte eine Frage parat.

Beim Spaziergang durch Kreuzberg verschwand sie unversehens. „Wo warst du denn?“ – „Auf dem Klingelbrett waren lauter armenische Namen, da musste ich doch nachfragen!“ Glück war für sie, neugierig sein zu können, Neugier teilen zu können. Das Glück war für ihn: Anna. 30 Jahre lebte er an der Seite dieser Frau, an keinem einzigen Tag haben sie sich gelangweilt. Glück war für sie: Viele Gäste, das Tafelsilber der Mutter aus der Vitrine holen, ein schönes Tischtuch auflegen. Eine seltene Gelegenheit, Schmuck anzulegen, was sie sonst nie tat. Sie wusste, dass sie eine schöne Frau war, aber sie war nicht eitel. Ihre Kleider hat sie sich selbst genäht, meist aus Stoffen, die noch ihrer Großmutter gehört hatten. Glück war für sie: ein Konzert hören, den „Messias“ im Güstrower Dom. Tränen standen ihr in den Augen. Abends hinterm Haus sitzen, den Mond aufgehen sehen, das Abendlied von Matthias Claudius summend, „Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.“

Im letzten Jahr, als sie bereits wusste, dass sie sterben würde, legte sie ein Beet an, pflanzte Himbeeren, Johannisbeeren, zupfte Unkraut mit Andacht. Der Tod trennt und er bringt zusammen. Die Trauer, dass ein Mensch geht. Die Freude, dass er gelebt hat. Wie gern waren sie zusammen über Friedhöfe gegangen, „Père Lachaise“, „Montparnasse“. Wer war das? Was für eine Geschichte verbirgt sich hinter dem Namen? Wer war sie?

Für ihn war sie Anna, die Liebe seines Lebens, die er gehen lassen musste: „Lass los, stirb, ich komm irgendwann nach …“

Für die anderen war sie Annemarie, die Kämpferin, die niemals aufgab. Ihr Kampf begann, als sie miterleben musste, wie ihren Eltern, Großbauern in Thüringen, das Land genommen wurde. Der Vater, heil aus dem Krieg heimgekehrt, wurde verschleppt und starb in Sibirien, die Mutter wurde ausgewiesen in den Westen, die Kinder blieben bei der Großmutter. „Bübchen, wein nicht vor den Leuten“, ermahnte sie ihren Bruder. Sechs Jahre später erst konnten sie nachziehen, aber sonderlich willkommen fühlte sie sich in Westdeutschland nie.

Annemarie studierte Soziologie und Psychologie und war vom ersten Tag an mittendrin in der Studentenbewegung. Sie war es, die der Revolte ein weibliches Gesicht gab, nicht die Gewalttäterinnen und Gazettengroupies. Die Kämpfer-Geschichten aus der guten alten Zeit des politischen Aufbruchs will heute keiner mehr hören. Die Kämpfe sind gekämpft. Vieles, was Annemarie und ihre Mitstreiterinnen forderten, steht allerdings immer noch auf der Agenda. Eine Quote für Frauen in Führungspositionen, ein Hausfrauengehalt, ein fairer Lohn für alle. Sie zerrieb sich zwischen den Fronten, weil sie keine starren Fronten wollte. Als sie die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg erforschte, wurde sie von vielen Genossen übel beschimpft. Sie wurde beschimpft, als sie einen sozialistischeren Feminismus forderte, und sie wurde beschimpft als sie einen feministischeren Sozialismus einklagte.

Sie war mit dabei in der Initiative „Brot & Rosen – Frauen gemeinsam sind stark“ und überbot den Slogan dialektisch: „Frauen und Männer gemeinsam sind stärker“.

Das gefiel den Dogmatikern gar nicht. Die Paschas in der Studentenbewegung ließen sich nur sehr gemächlich dazu herab, auch Frauen ernst zu nehmen, zumal wenn sie vor der letzten Radikalität zurückschreckten. Annemarie Tröger wollte den Sozialismus, aber nicht mit aller Gewalt. Sie war nicht feige, stand meist in der ersten Reihe, wenn die Wasserwerfer heranrollten, aber sie sah sich nicht als Täterin. Die Arroganz, eine Revolution zu wollen, die die Menschen nicht wollten, war ihr fremd. Viele Dialektiker des großen Aufbruchs dachten nicht sonderlich dialektisch, sie wollten einfach nur Recht behalten, Gegenpositionen eliminieren. Die Dialektik des guten Lebens, die wenigsten haben sie vorgelebt. Der Umgangston in der Studentenbewegung war zuweilen sehr rüde, die Toleranz gegen Andersdenkende in den eigenen Reihen gering, unmenschlich gering.

„Brot und Rosen“ stand auf dem Transparent der amerikanischen Textilarbeiterinnen, die 1912 für mehr Rechte gestreikt hatten, „We want bread and roses, too“.

Was ist das gute Leben? Wenn es mir gut geht und den anderen schlecht – kann das ein gutes Leben sein? Sie ging nach Afrika, lernte in Ghana Entwicklungspolitik vor Ort kennen, zog weiter nach Lateinamerika, kam auch dort nicht zur Ruhe, übersiedelte für sieben Jahre in die USA, lebte in Harlem, lernte und lehrte an Universitäten, arbeitete in einer Fischfabrik, aber sie blieb eine Zugereiste.

Als sie zurückkam, war sie müde. Eine Utopie ist kein Zuhause.

Sie fand eine befristete Anstellung an der Freien Universität, forschte über Frauen im Faschismus; bekam einen Zeitvertrag an der Universität Hannover, lehrte „Oral History“, kam zurück nach Berlin. Sie hangelte sich von Job zu Job, ließ sich zur Psychotherapeutin ausbilden, half anderen, aus ihren Traumata auszubrechen. Fand selbst keinen Weg in eine feste Anstellung, dazu legte man ihr zu gerne Steine in den Weg. „Sie hat keine Karriere gemacht“, beschrieb es eine Freundin in der „Emma“, „sondern Geschichte, Frauengeschichte.“ Das hat sie viel Kraft gekostet.

Das gute Leben – ist ein Leben zu zweit. Was braucht es dazu? Liebe und ein Stück Land. Sie hat sich den Mann gesucht, dem sie zutraute, ihr Ruhe geben zu können, und ihn nicht mehr gehen lassen. Aus den großen Kämpfen zog sie sich zurück. Auf ihrer letzten Demo, in Heiligendamm gegen den G 8-Gipfel, da war sie eigentlich nur noch Streikberaterin für einen Freund. „Zehn Euro, Telefongroschen, Personalausweis und vor allem, leg dir eine Strategie zurecht – oder willst du dich nur verprügeln lassen?“

Ihren letzten großen Kampf, den kämpfte sie für sich selbst, für ihr Land. Land, das ihr zu guter Letzt auch zugesprochen wurde als Entschädigung für das enteignete Gut der Eltern. Warum, fragten alte Genossen erstaunt, ist eine Sozialistin so wild auf Grundbesitz? „Weil ich dann bestimmen kann!“ Keine Windmühlen so nah beim Dorf, keine Chemie, keine Wucherpacht. Biolandwirtschaft, und eine Blühwiese für Bienen. Glück war für sie: Kraniche umherspazieren sehen.

Von mir wird nichts bleiben, fürchtete sie immer. Zum Schreiben war sie zu verzagt, zu nachdenklich. Es gibt so viele Menschen, tröstete er sie, die voll Wut von dir reden und voll Liebe. In deren Erinnerung lebst du.

Sie wollte nicht über ihre Krankheit reden. Sie schrieb nicht gerne Mails, dann lieber einen Brief. Aber das fiel ihr immer schwerer. „Lass mal, es ist mein Schicksal.“ Ganz selten hemmungsloses Weinen. Bis zuletzt: „Financial Times“, „BBC News“, „CNN“ und „Al Jazeera“. Über ihren letzten Atemzug hinaus sorgte sie für Diskussionen. Als die Trauerreden gehalten wurden, kam es sofort zur Debatte über ihr wahres Wesen, so hitzig und lautstark, wie sie es geliebt hätte. Wenn ich mal sterbe, bleiben von mir – so viele Erinnerungen. Und eine Blume: „Siberian Iris ,Annemarie Troeger’“.

Wer immer ihr dieses Geschenk machte, er hätte kein besseres finden können, denn die Iris zeugt von Schönheit und Kraft, und die Göttin des Regenbogens selbst wacht darüber, dass ihre Schutzbefohlenen mehr als nur ein Leben führen dürfen. Gregor Eisenhauer

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