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Berlin: Anna Emma Waltraud Haase (Geb. 1930)

Keiner duldete sie länger als drei Tage: zu viel Extravaganz, zu wenig Demut

Musste sie sich noch mit 80 die Haare blondieren, die Taille in einen Schmetterlings-Gürtel zwängen, Teenager-Turnschuhe tragen und die Hand kokett in die Hüfte stützen, bevor sie fragte, ob noch jemand Kartoffelbrei will?

Noch während die Enkelin heimlich die Augen verdrehte, wusste sie: Genau dafür liebte sie ihre Großmutter.

Grau und hart war es lange genug zugegangen im Leben der Waltraud Brychcy, eine ganze Jugend in Berlin-Friedrichshain hindurch.

Die erste Wohnung: ausgebombt. Die zweite Wohnung: ausgebombt. Die dritte Wohnung: ausgebombt. Der Onkel: begraben unter einem Mietshaus. Der Tanzpalast, in dem sie Ballett tanzte, seit sie vier war: ein Haufen Staub und Geröll.

Als 1947 der Zirkus Barlay seine bunten Lichter aufscheinen ließ inmitten der Zerstörung, war Waltraud nicht mehr zu halten. War auch die Bühne zertrümmert, ihre Lust, sich zu zeigen, zu triumphieren über das Alltägliche, war ungebrochen. Sie spannte sich einen Bauchladen vor die Taille und heuerte an als Süßigkeitenverkäuferin. Als die Mutter Wind davon bekam, heuerte sie ebenfalls an, hinter der Kasse. Bloß nicht aus den Augen verlieren, das Gör. Vergeblich. Der Zirkus zog weiter, und das Mädchen zog mit, jetzt nicht mehr als Süßigkeitenverkäuferin, sondern als Tänzerin.

Wenn der Elefant den Hocker erklomm, sich auf die Hinterbeine stellte und den Rüssel aufrollte, wirkte es, als würde er all das Widernatürliche nur für sie tun, die langbeinige Ballerina, die im Spagat auf seinem Rücken schwebte, bekleidet nur mit einer orientalischen Pluderhose und einem Büstenhalter, den Kopf leicht zur Seite gedreht, im Gesicht eine freche, unergründliche Amüsiertheit.

Gastierte der Zirkus daheim, hatte sie das Artistenköfferchen vollgepackt mit Lebensmitteln für die blasse, hungernde Verwandtschaft und trug Fotos bei sich, die sie in hübschen Sommerkleidchen auf den Brücken von Florenz und in den Gondeln von Venedig zeigten.

Vom Alltag in der Zirkustruppe erzählte sie nie, von Konflikten und Mühsal schon gar nicht. Was sie weiterzugeben hatte, waren Glanz, Schönheit, Leichtigkeit; Anna Emma Waltraud Brychcy war ihre eigene Show.

Auch als mit der Geburt ihrer beiden Kinder das Zirkusleben ein Ende fand und sie zurückzog nach Berlin. Nichts lag ihr ferner, als sich abdrängen zu lassen ins Hinterstübchen, in die Mutterrolle. Während Wilke, ihr Will, ihr Liebster, ein Musikant, auf Hochzeiten das Akkordeon spielte, versuchte sie sich als Verkäuferin. Doch wurde sie nirgendwo länger als drei Tage geduldet: zu viel Extravaganz, zu wenig Demut.

Auf ihr Drängen hin eröffneten sie in der Wiener Straße einen eigenen Zeitungskiosk. Will verkaufte in der ersten Tageshälfte, sie in der zweiten. Niemand wusste Tabak und Kaugummi- Päckchen gekonnter über den Tresen zu reichen als sie. „Vornehm geht die Welt zugrunde“, das war ihr liebster Spruch.

Die Show ging weiter, auch als Will viel zu früh starb und sie allein dastand mit zwei Kindern. So früh sie auch aufstehen musste, so schwer die Zeitungsstapel sein mochten: Ihr Haar blieb blond ohne Ansatz, der Gürtel glitzerte, der Lippenstift leuchtete.

Sie war und blieb ein Bühnenwesen, das nie ganz ankam im Alltag der anderen. Viele Bekannte hatte sie, keine Freunde. Zwar war sie freundlich und hilfsbereit, die Erste, die einen Arzt rief, jedoch die Letzte, die eine Wunde persönlich verbunden hätte. Wer auf der Bühne steht, lebt von der Distanz.

Nicht aber zu dem, der ihre Bühne erklomm, um mit ihr ein neues Märchen zu tanzen: Das war der Maurer Wolfgang Haase, zehn Jahre jünger als sie, der der Grazilen in den Morgenstunden nur zu gern beim Stapel-Schleppen half.

Er schenkte ihr Rosen, sie kochte ihm seine liebsten Speisen, er buchte Reisen in möglichst ferne, sonnige Länder.

Als sie Großmutter wurde, kümmerten sie sich gemeinsam. Wolfgang war der Vernünftige, sie der Paradiesvogel. Das Kind wollte buddeln? Nun gut, aber auf den Buddelkistenrand zu den anderen Großmüttern konnte kein Kinderwille sie zwingen. In der Dämmerung füllte sie Tüten mit Sand, schüttete ihn in der Küche aus: die Manege in der Wohnung, voilà!

Bloß nicht fad werden lassen das Leben, undenkbar auch, dass jemandem fad wurde an ihrer Seite. Fad wurde Wolfgang nicht, all die Jahre nicht. Aber er wollte nicht in Kreuzberg alt werden. Sie schüttelte den Kopf, den eigensinnigen, beharrte darauf, in der Nähe ihres Sohnes und ihres Bruders zu leben, in der lauten, bunten Stadt, in der sie sich wohlfühlte.

Und dann lag sie des Abends neben ihrer groß gewordenen Enkeltochter und flüsterte von ihrem gebrochenen Herzen. Dass er das wirklich getan hatte. Dass er wirklich fortgezogen war, und sich noch einmal verliebt hatte. Dass es zerbrochen sein sollte, dieses letzte Märchen, in dem sie die Herzdame gewesen war.

Sie wurde krank. Gab der Enkelin letzte Ratschläge: Pass dich nicht an. Gib niemals auf. Sei deine eigene Show.

Dann lag sie im Krankenhausbett und wollte nicht sterben, nicht so. Schließlich rief die Tochter Wolfgang an, redete auf ihn ein, sprich mit ihr, ein letztes Mal. Als die Tochter das nächste Mal in das Krankenzimmer kam, war sie tot. In ihren Händen hielt sie Wolfgangs Geschenk: eine weiße und eine rote Rose.

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