zum Hauptinhalt

Berlin: Angelika Nicolaus (Geb. 1948)

Sie ist eben manchmal gerne allein. Denken die Freundinnen

Ein Foto, der Innenraum eines holzvertäfelten Restaurants. Durchs Fenster geht der Blick auf Himmel und Meer, bunte Strandkörbe. Am Tisch sitzen ein Mann und eine Frau mit braun gebrannten Urlaubsgesichtern. Der Mann mit markantem Schnurrbart ist groß, sein Hemd tief aufgeknöpft. Die Frau im rosa Pulli lehnt sich an ihn. Sie hat ihre Schultern leicht hochgezogen, als schäme sie sich ein wenig. Aber ihr helles Gesicht verrät Glück.

Angelika Nicolaus hat auf dem Foto eine Dauerwelle, es ist wahrscheinlich in den achtziger Jahren entstanden. Später wird sie kurze rote Haare tragen und am Ende eine Perücke. Manfred heißt ihr Ehemann. Der gut aussehende Mann auf dem Foto aber ist Dieter. Außer Angelika weiß niemand von Dieter, nicht einmal ihre engsten Freundinnen. 20 Jahre lang wird sie die Liebe zu ihm geheim halten.

Sie war ein Einzelkind, geboren in Berlin-Friedenau. Ihr Vater, ein Frauenheld, verließ die Familie, als sie sechs war. Die Mutter aber, mit der sie nun allein lebte, war keine normale Mutter. Eine normale Mutter liebt ihr Kind, ist fürsorglich und zärtlich. Angelika wurde von ihrer Mutter abgelehnt. Als sie einmal aus den Ferien ins eingemauerte Berlin zurückkam, war ihr heiß geliebter Dackel Kobold verschwunden. Er war ein Geschenk des Vaters, die Mutter hat ihn einfach weggegeben. Zum Glück war da noch die beste Freundin mit ihren drei Geschwistern. Immer öfter floh Angelika in deren lebhaftes Haus, wo die Parole galt: Wo vier sind, können auch fünf sein. Schon früh lernte sie, sich selbst ums Nest zu kümmern. Sie wollte mit anderen Menschen zusammen sein. Und für sie da sein; sie wollte Kinderkrankenschwester werden.

Den Wunsch muss sie mit 19 aufgeben, als ihr Sohn geboren wird. Dafür hat sie nun mit Manfred, dem Vater, endlich ihre eigene Familie. Manfred war der Wunschkandidat der Mutter, sie hat seine Mutter auf einer Kur kennengelernt. Angelika gibt ihre Hoffnung nicht auf, von ihrer Mutter anerkannt zu werden. Sie heiratet Manfred, und zu dritt ziehen sie in eine Eigentumswohnung nach Lichterfelde. Dort bekommt sie eine Stelle bei der Rentenversicherung.

Sie reist gerne, am liebsten ans Meer, sie liebt die reetgedeckten Häuser an der Nord- und Ostsee. Meist reist sie ohne Begleitung, sie ist eben manchmal gerne allein. Denken die Freundinnen. Tatsächlich ist das die einzige Möglichkeit, mit dem Menschen zusammen zu sein, den sie liebt. 1982 hat sie Dieter auf einer Kur kennengelernt. Er ist ein Frauenschwarm, wie ihr Vater einer war. Er lebt über 500 Kilometer entfernt bei seiner Familie mit vier Söhnen in Wuppertal.

Angelika findet: Wenn man etwas verschweigt, ist das noch keine Lüge. Die Familie darf schließlich nicht gefährdet werden. Ihr Foto mit Dieter versteckt sie gut. Aber dann findet Manfred einen Brief von Dieter. Ist das nun ihre Chance, kann sie jetzt den Bruch vollziehen? Sie will es allen recht machen, sie rettet ihre Ehe.

Für ihre Sorge und Aufopferungsbereitschaft wird sie geschätzt. Mit Hingabe pflegt sie einen todkranken Freund. Von einem Griechenland-Urlaub bringt sie einen Hund für ihren Sohn mit, der seinen Job verloren hat und in einer Krise steckt, Der „Therapiehund“ bekommt den Namen Freud. Der Sohn ist nur mittelmäßig begeistert, aber für Angelika Nicolaus wird Freud zum wichtigen Begleiter ihrer letzten Jahre. „Dokö“, sagt sie, wenn sie nach der Rasse des großen hellen Hundes gefragt wird. Dann wird mit Kennermiene genickt. „Dokö“ hat sie sich ausgedacht, es steht für Dorfköter.

Und schließlich wagt sie es doch: Auf die Millenniums-Silvesterparty mit den Freundinnen bringt sie Dieter mit. Sie staunt, als keine von ihnen geschockt oder wütend reagiert. Dass die anderen einfach wünschen, dass sie glücklich ist, kam ihr kaum mal in den Sinn. Sechs Jahre später lässt sie sich scheiden. Sie wird mutiger, ein wenig schonungsloser auch. Im Frühjahr 2009 schickt sie an eine Freundin eine SMS: „bösartig, sehr aggressiv, schnell wachsend. keine op möglich.“ Brustkrebs. Siebzig Varianten gibt es, sie hat die siebzigste und schlimmste. Nach dem Besuch in der Charité sitzt sie mit Dieter auf einer Bank Unter den Linden. Dort verloben sich die beiden. Und kaufen noch am selben Tag die Ringe.

Die Hochzeit feiern sie ein Jahr darauf. Obwohl eine Heilung ausgeschlossen ist, entscheidet sie sich zu einer Chemotherapie. Sie will noch so viel Zeit wie möglich mit ihrem Mann verbringen.

Im Herbst 2011 fahren sie noch einmal ans Meer. Natürlich ist bei den mühsamen Strandspaziergängen Freud dabei. Im Januar geht Angelika Nicolaus ins Hospiz. Zu den wenigen Sachen, die sie mitnimmt, gehört das Hochzeitsalbum. Sie will die Fotos, die Zeugnisse der Liebe, bei sich haben. In Berlin, wo sie aufgewachsen ist, möchte sie nicht beerdigt werden, sondern weit entfernt, bei Dieters Familie. Felix Lampe

Felix Lampe

Zur Startseite