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Berlin: Andreas Thies (Geb. 1960)

"Wenn man bedenkt, dass wir alle verrückt sind, ist die Welt erklärt"

Was Goethe und Stephen King gemeinsam haben? Sie hassen Langeweile und haben ein Gespür für gute Geschichten. Und getrunken haben sie auch ganz gern. King ist inzwischen trocken und Goethe tot, aber beides will bei Autoren nicht viel heißen. Andreas liebte Goethe und King. Er wäre selbst gern Autor geworden, Romanschreiber, Dichter. Geschichtenerzähler war er ja schon, quasi von Berufs wegen.

Wer nichts wird, wird Wirt – ein Brüller, der Spruch, schon in der Steinzeit. Warum Andreas Wirt wurde? „Ständig hatte ich Durst und seit dem Mauerfall war hinterm Tresen das Bier billiger.“ 17 Jahre hielt er durch.

Denn so eine Kneipe ist prinzipiell eine gute Sache. „Wer kennt das schon, am Abend 20- bis 100-mal überrascht zu werden und fast alle zahlen etwas, bevor sie wieder gehen. Das ist doch ein dickes Ding.“ Hat überhaupt je ein Wirt davon erzählt? All die Geschichten zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Zu viel zu erzählen, zu wenig Zeit, es zu tun. „Käme ich, sagen wir mal sonntags, auf die Idee herauszufinden, was die letzte Woche so anlag, dann ginge es mir wohl wie jemandem, der jeden Tag vier Filme hintereinander gesehen hat, also 28 die Woche. Nur ganz außergewöhnliche Gedächtnisse behielten da noch den Überblick.“

Wie so eine Geschichte hätte anfangen können, eine, die das Aufschreiben lohnt? Na beispielsweise so: „Es war also Anfang Januar, ungefähr der 3000. Abend, an dem ich das Klo wischte, durchsaugte, Aschenbecher hinstellte, die Kerzen anzündete und wartete, wenn auch nur kurz …“ Dann kam sie rein. Er sah sie an und fragte: „Fährst du mit nach Amerika?“ Sie fuhr mit. Na ja, nicht auf der Stelle. Aber gefahren sind sie. Und geliebt haben sie sich bis zum Ende. Kurze, gute Geschichte mit Happy End.

Nicht ganz so glücklich war Andreas’ Liebe zu Union. Da hätte er einiges besser machen können als Trainer und Spielerberater. Sein Traum: „Ein Ohrensessel im Mittelkreis, einer mit Elektromotor und einem Geschwindigkeitsregler, der es erlaubt, jedem einzelnen Spieler Anweisungen ins Mittelohr zu brüllen, Beine zu stellen und auch mal den Schiedsrichter umzufahren.“

Das sind so Träume, die werden am Tresen geträumt. Was wichtig ist fürs Zusammenleben der Menschen, weil sie die Welt unmittelbar schöner machen, und verständlicher. „Wenn man bedenkt, dass wir alle verrückt sind, ist die Welt erklärt.“

Andreas war einer, der aus Prinzip die Bierflasche mit dem Feuerzeug öffnete, auch wenn sie sich aufschrauben lässt. Was nicht heißt, dass er für die Vernunft an sich nichts übrig hatte. Er war Schachspieler, sogar ein ziemlich guter. Ein rücksichtsvoller noch dazu, er achtete immer darauf, dass seine Klamotten nicht nach Kneipe stanken, wenn er zum Wettkampf antrat.

Andreas war einer, der gern auf dem Land wohnte und gern auch wieder in die Stadt zurückkam, „in die große Stadt, wo meine Kneipe wohnt, die ich vor tausend Jahren mal ,5 Ziegen’ genannt habe, und in der ich, seit ich das Denken verlernt habe, genauso viel Zeit verbringe wie beim Schlafen.“

Der Traum: Mit seiner Liebsten ein Haus in der Uckermark herrichten, einen Hyänenhund großziehen und einen Wolfshund und eine kleine Kneipe für die Laufkundschaft eröffnen. Denn von seinen Gästen kam er nicht los. Selbst von den harmlosen nicht.

Von den Waldorfkindern etwa, „die außerstande sind, einen Bananensaft zu trinken, wenn kein Kirschsaft drinne ist“. Dann diese Schorletrinker: „Es wird der Tag noch kommen, da man Mineralwasser mit Leitungswasser versetzen muss: Die Mineralwasserschorle!“

Und die Hefeweizen-Bayern, denen er einen „Bierbeleidigungsaufschlag“ von 20 Cent abverlangte, die Flaschentrinker, die ihm am liebsten waren, weil sie ihm keine Schankzeit raubten.

„Ich sag was, jemand sagt was zurück, ich sag wieder was, und wenn Bier im Spiel ist, geht das stundenlang. Auch Dritte und Vierte können mitreden, und wenn alle gesund bleiben, gibt es am nächsten Tag gemeinsame Erinnerungen.“ Das ist das ganze Geheimnis menschlicher Kultur. Das, und die belebende Wirkung von Alkohol, dessen üble Folgen natürlich nicht verschwiegen werden sollen: „Es gilt keiner als besoffen, der noch ohne Hilfe flach auf dem Bauch liegen kann. Unter 18 heißt das Komasaufen, über 18 Kummersaufen.“

Die Kneipe ist die Geburtsstätte klassischer Dialoge, übers Trinken im Besonderen wie übers Leben im Allgemeinen: „Was machst du denn für ein Gesicht?“ – „Wenn ich Gesichter machen könnte, hättest du ein anderes.“ So entstehen und vergehen Freundschaften.

Und das hätte ewig so weitergehen können, aber für den Wirt wie für den Gast gilt: Feierabend kommt immer schneller, als man denkt. Na ja: alles gut, solange Union gut spielt. Gregor Eisenhauer

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