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Ecstasy-Pillen

© mauritius images / Martin Norris Studio Photography / Alamy

An Berliner Schulen: Ecstasy zu Taschengeldpreisen

Immer mehr Teenager nehmen Experten zufolge die Partydroge Ecstasy. Dealer bieten sie den Schülern in Berlin offenbar „deutlich unter üblichen Marktpreisen“ an.

Auf „beunruhigt“ hat Gordon Lemm seinen Gemütszustand bei Facebook eingestellt. Am späten Montagnachmittag wandte sich der Marzahn-Hellersdorfer Jugendstadtrat mit einem Beitrag an die Öffentlichkeit. Demnach registriert das Bezirksamt seit drei bis vier Monaten vermehrt Fälle von Ecstasy-Konsum unter Jugendlichen. Sie sind Lemm zufolge lediglich zwölf bis vierzehn Jahre alt, teilweise sogar erst elf, und die Pillen sind schon ab 1,50 bis drei Euro zu bekommen – und hoch dosiert.

Ans Tageslicht kam die Entwicklung in Marzahn-Hellersdorf, weil der Drogenbeauftragte im Bezirksschulbeirat von seinen Beratungen berichtete. Etwa zehn bis fünfzehn Kinder mit ihrem Eltern hätten in der jüngeren Zeit wegen Ecstasy bei ihm Hilfe gesucht – so viel wie noch nie. Vermutlich gebe es eine noch deutlich größere Dunkelziffer an Fällen, das genaue Ausmaß sei unklar. Von einer großen Welle will der Stadtrat aber nicht sprechen, ihm ist es wichtig, keine Panik zu verbreiten.

An die Öffentlichkeit habe er sich gewandt, um vor allem die Eltern zu sensibilisieren. Sie sollen einerseits ihre Kinder warnen und andererseits die Anzeichen deuten können, wenn etwas nicht stimmt. Lemm verweist insbesondere auf Gereiztheit, depressive Verstimmungen oder Unkonzentriertheit, nachdem das erste Glücksgefühl, das Ecstasy beziehungsweise der Wirkstoff MDMA auslöse, verflogen sei. Bei Überdosierungen und längerer Einnahme sind auch stärkere Reaktionen bis zu gesundheitlichen und psychischen Schäden möglich.

Praktisch alle Oberschulen des Bezirks haben Lemm zufolge seit Jahresbeginn Erfahrungen mit dem Phänomen gemacht. Auch in den gut situierten Vierteln komme es vor. In zwei Fällen seien Elfjährige auffällig geworden. „Es beginnt in der Grundschule“, sagt der Stadtrat. Vor allem seien Mädchen betroffen, für die das auch „Empathikum“ genannte MDMA in Gestalt der bunten Pillen offenbar besonders attraktiv sei. Anfangs seien auf den Schulhöfen Schulfremde gesehen worden, die die Verkäufer gewesen sein könnten. Das sei von den Schulen inzwischen unterbunden worden.

Die Produktion der Pillen wird effizienter

Mittlerweile seien die Verkäufer mobiler und gezielt unterwegs, um sich neue Märkte zu erschließen. Sie böten die Droge „deutlich unter üblichen Marktpreisen“ an, sagt Lemm. In Clubs koste eine Pille sonst zehn Euro, jetzt oft weniger als ein Drittel. Nach Tagesspiegel-Recherchen in Justizkreisen drängt sich der Eindruck auf, dass die Produktion der Pillen immer effizienter und günstiger wird.

Lemm geht nicht davon aus, dass das Problem auf Marzahn-Hellersdorf beschränkt ist. Vermutlich seien auch andere Teile Berlins davon betroffen, erste Hinweise habe er aus Neukölln erhalten. Das dortige Bezirksamt erklärte auf Nachfrage, solche Fällen seien bislang nicht bekannt, es gebe kein „breiteres Phänomen unter Kindern in Neukölln“.

Auch in Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg und Spandau war den Bezirksämtern nicht bekannt, dass Kinder und Jugendliche vermehrt Ecstasy nehmen. Es könne jedoch davon ausgegangen werden, dass ein sehr kleiner Anteil an Kindern und Jugendlichen Ecstasy nehmen, hieß es aus Spandau.

„Endlich spricht es mal einer aus“

Berlins Drogenbeauftragte Christine Köhler-Azara sagte: „Die Situation, wie sie sich in Marzahn-Hellersdorf darstellt, ist für Berlin ungewöhnlich. Aus anderen Bezirken kennen wir das Problem so nicht.“ Auch grundsätzlich sei bei 12- bis 13-jährigen Kindern der Konsum von Ecstasy „eher ungewöhnlich“, es handle sich um eine Partydroge für junge Erwachsene, sagte Köhler-Azara. Sie sei von der Sucht- und Drogenberatungsstelle in Marzahn-Hellersdorf über eine steigende Zahl von Anfragen besorgter Eltern informiert worden. Der Bezirk sei mit dem Problem „vorbildlich umgegangen“, habe alle Beteiligten an einen Tisch geholt.

Überhaupt nicht überraschend findet dagegen Kerstin Jüngling, Geschäftsführerin der Berliner Fachstelle für Suchtprävention, den Bericht des Schulstadtrates Lemm. „Ich habe gedacht, endlich spricht es mal einer aus und traut sich was“, sagte Jüngling. „Es gibt nach meiner Einschätzung an den Schulen alle Substanzen, auch Medikamente. Jetzt wurde wieder etwas entdeckt. Doch das ist immer nur die Spitze des Eisberges.“ Es sei auch seit Jahren bekannt, dass die Konsumenten immer jünger werden. Derzeit nehme unter Jugendlichen in Berlin vor allem der Cannabis-Konsum rapide zu.

Prävention und Aufklärung fehle, so Jüngling

Berlin habe ein grundsätzliches Problem, sagt Jüngling. „Die Stadt hat alles dafür getan, um hipp und Europas Partyhauptstadt zu sein. Und die Eltern nehmen ihre Rolle nicht mehr wahr, die Erwachsenen haben aufgegeben. Dabei müssten sie Grenzen setzen, mit ihren Kindern über Drogenkonsum sprechen. Wenn das nicht geschieht, lassen wir die Kinder und Jugendlichen allein.“

Nötig sei eine Kultur der Verantwortung, ein gemeinsames Vorgehen von Prävention, Politik und Verwaltung, um den Drogenkonsum bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern. „Es sind nicht alle Jugendlichen, aber wenn es in der Schule ankommt, ist es eine Gefahr für alle.“ Wenn sich die Stadt einfach daran gewöhne und damit abfinde, „wenn wir nicht einschreiten, verbreitet sich das wie ein Flächenbrand“.

Aber wie passt es da, dass Berlin das Drug-Checking einführt, damit Konsumenten ihre Drogen anonym auf Überdosen und Streckmittelvergiftungen prüfen lassen können? „Diese Debatte ist richtig – für die Erwachsenen“, sagte die Chefberaterin. „Aber wenn die Politik allein damit in Erscheinung tritt, suggeriert das der Normalbevölkerung, dass der Drogenkonsum nicht so gefährlich ist. Was fehlt ist Prävention, die Aufklärung über die Gefahren“, sagt Jüngling.

Aufklärung über Drogen ist erst in der neunten Klasse ein Thema

„Wichtig ist es, die Kinder und Jugendlichen vor dem Drogenkonsum zu schützen und so fit zu machen, dass sie als Erwachsene damit auf guter Wissensbasis umgehen können, ohne ihr Leben zu gefährden.“ Auch aus Justizkreisen heißt es, Drug-Checking sei für ältere Konsumenten der richtige Ansatz, doch in den Prävention bei Kindern und Jugendlichen sei bislang zu wenig getan worden.

Schulstadtrat Lemm beklagt, dass die Aufklärung über Drogen im Rahmenlehrplan erst in der neunten Klasse verankert sei. Die Schulen im Bezirk wollen die aktuelle Entwicklung jetzt schon früher thematisieren. Lemm will mit der Bildungsverwaltung auch besprechen, ob und wie der Lehrplan generell verändert werden muss. Auch die Sozialarbeiter seien eingeschaltet, ebenso die Polizei. Die will sich erst am Mittwoch dazu äußern.

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