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Patrick Larscheid, der Amtsarzt von Reinickendorf, berät auch die Bildungsverwaltung.

© Paul Zinken/dpa

Amtsarzt über Coronavirus in Berlin: „Bei Mehrheit der Fälle ist die Ansteckungsquelle nicht nachvollziehbar“

Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid über die aktuelle Lage der Pandemie in Berlin und das Warten auf eine Antwort der Gesundheitssenatorin.

Patrick Larscheid ist Amtsarzt und Leiter des Gesundheitsamts Reinickendorf. Im Interview spricht er über eine Obergrenze für Neuinfektionen, die Arbeit der Gesundheitsämter und die von Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) angekündigte Berliner Teststrategie.

Herr Larscheid, wie ist die Lage derzeit in Berlin?
Die Nachverfolgung funktioniert in allen zwölf Berliner Bezirken zurzeit reibungslos und vollständig. Tatsächlich gibt es nur kleinere Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen, die auch Folgefälle produzieren. Andere Fälle stehen in einem klaren familiären Zusammenhang. In der Mehrheit der Fälle ist nicht nachvollziehbar, wo die Ansteckungsquelle ist.

Ist das nicht eine schlechte Nachricht, wenn sich dies nicht nachvollziehen lässt? Ist die Lage dann wirklich unter Kontrolle?
Ja, das ist nicht gut. Allerdings greift hier das Instrument der Quarantäne trotzdem. Das entschärft die Situation.

Als Obergrenze wurde letzte Woche die Zahl von wöchentlich 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner eingeführt – dann sollen lokal Einschränkungen eingeführt werden. Für Berlin wären das rund 270 Neuinfektionen pro Tag, während es zuletzt einige Dutzend Neuinfektionen gab. Können mit dieser Grenze neue Probleme erkannt werden?
Die Zahl 50 ist pure Willkür. Sie hat keine wissenschaftliche Grundlage, sondern sie ist einfach festgesetzt – warum es 50 sind, weiß niemand. Es könnten völlig problemlos auch 30 oder 70 oder sonst etwas genannt werden.

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Aber das Hauptproblem an dieser Zahl ist, dass sie total undifferenziert ist: Es macht natürlich einen großen Unterschied, ob die Anzahl innerhalb eines umschriebenen Ausbruchs erreicht wird – dann ist das Geschehen leichter beherrschbar – oder ob 50 verteilt ist in der Bevölkerung allgemein, möglicherweise ohne einen klaren Fallbezug untereinander. Das wäre eine ganz andere Situation und möglicherweise ein Hinweis, das Ansteckungsquellen sich diffus verteilen. Dann wären die Ansteckungen schwer unter Kontrolle zu bringen.

Zusammengefasst: Die 50 als Cluster ist etwas, was mir weniger Sorgen machen würde. Viele Fälle diffus verteilt können ein großes Problem verursachen. Deshalb kann eine pauschale Zahl nicht angemessen sein.

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Es wurde gesagt, Gesundheitsämter könnten maximal die Kontakte von einem neuen Fall pro Tag nachverfolgen. Stimmt das?
Da kann ich nur den Kopf schütteln. Ich verstehe nicht, auf welcher Grundlage eine solche Aussage beruht. Selbstverständlich hatten wir in den letzten Wochen bei uns mehr Fälle – wir kommen sehr wohl damit zurecht.

Auch da viel Personal dazugekommen ist, was jederzeit reaktivierbar ist. Derzeit ist es nicht nötig, so viele Leute einzusetzen. Dass alle etwa 400 deutschen Gesundheitsämter über einen Kamm geschoren werden, ist absurd. Es gibt zum Beispiel in Bayern oder auch Sachsen-Anhalt Gesundheitsämter, die immer unterbesetzt waren und die in der jetzigen Lage natürlich besonders zu kämpfen haben. Diese Kollegen müssen sich sehr viele Gedanken machen, wie sie die Arbeit im Moment schaffen.

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Das Ganze hat auch mit politischer Unterstützung zu tun: Wenn man unterstützt wird von seiner Behörde, dann ist vieles machbar. Natürlich sind Ämter mit 35 Mitarbeitern etwa auf dem Land nicht vergleichbar mit Ämtern in Großstädten, die vielleicht 150 oder 200 Mitarbeiter haben.

Die wahllose Obergrenze an Neuerkrankungen pro Region hat deshalb gar keinen Sinn. Sie muss differenziert werden nach Stadt oder Land. Wie man dann auch noch auf einzelne Gegenden – etwa in einzelnen Landkreisen – Beschränkungen einführen will, ist politisch höchst interessant. Ich halte das für ein Wagnis.

Kritiker sagen auch, dass es durch die Obergrenze für Kreise einen Anreiz gibt, lieber weniger zu testen – und etwa Heime nicht präventiv zu testen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Diese Vorstellung beruht auf der Annahme, dass Fälle vor allem durch wahlloses Testen entdeckt werden. Das entspricht nicht der Realität: Wir haben keine Diagnosevertuschung.

Dilek Kalayci hat kürzlich eine Berliner Teststrategie angekündigt. Wie sieht diese aus?
Das wüssten insbesondere wir Fachleute gerne. Frau Kalayci steht ja deshalb ein bisschen in der öffentlichen Kritik. Es erinnert mich etwas an Franz Kafka und seine Verlobte: Er hat so lange hin und her überlegt wie er sich verhalten soll, bis die Verlobte am Ende weg war.

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So ähnlich ist es auch mit der Berliner Teststrategie: Wir warten alle auf eine Antwort und sie kommt nicht. Die jetzt angekündigte Testung in Pflegeeinrichtungen hat uns niemand erklärt und vielleicht ist das auch das größte Problem: die mangelnde Kommunikation und Transparenz.

Wie läuft es derzeit denn in der Praxis?
Getestet wird derzeit, wo es einen Anlass gibt. Es gibt klare Regeln, wie es im medizinischen Bereich ist, und es gibt auch ansonsten klare Regeln, die vom RKI veröffentlicht werden und an die wir uns halten.

Merkt man mit den anlassbezogenen Testungen neue Ausbrüche denn schnell genug?
Der normale Ausbruch macht sich im Regelfall medizinisch bemerkbar und wird dann durch unsere sorgfältige Umgebungsuntersuchung besser überschaut. Das ist ein Verfahren, das sich bewährt hat.

Können Sie angesichts der aktuellen Lage und der wieder mehr aus dem Haus gehenden Bevölkerung gut schlafen – oder fürchten Sie eine zweite Welle?
Insbesondere in den letzten Tagen hat man gesehen, dass für viele eine Art Bastamentalität gilt. Die durchaus noch geltenden Beschränkungen werden einfach ignoriert, es sind sichtbar mehr Menschen in der Stadt unterwegs. Wir werden es sicher zu spüren bekommen.

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