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Demo zu Wasser. Amnesty International (AI) hat schon viele Aktionen in Berlin organisiert, wie hier am 6. Juni 2018. Da ging es mit Schiff und Plakaten durch Berlins Mitte – um auf den türkischenRechtsanwalt und vormaligen Leiter sowie Ehrenpräsident der AI-Sektion Türkei aufmerksam zu machen. Dieser sitzt wegen seiner Menschenrechtsarbeit in Haft.

© Stephane Lelarge

Amnesty International: Kurs auf Humanität

Seit 60 Jahren kämpfen die Engagierten von Amnesty International weltweit für Menschenrechte. Allein in Berlin sind 30 Gruppen aktiv.

„Dass Gott das Seufzen der Gefangenen höre“ - unter diesem Motto wurde im Juni in der Gedächtniskirche in Charlottenburg an die Gründung von Amnesty International (AI) vor 60 Jahren erinnert. Konkret gehandelt wurde am selben Tag anlässlich des Jubiläums Ende Mai ebenfalls: Aktivist:innen protestierten mit einer Fahrraddemo vor den Botschaften von Malta und Kolumbien gegen Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern. So wie seit 60 Jahren. Unermüdlich, beharrlich und unverzagt. Gewöhnliche Menschen können Außergewöhnliches bewirken, davon war der verstorbene Gründer Peter Benenson überzeugt. Die ehrenamtlich Engagierten von Amnesty International beweisen das jeden Tag.

Weltweit unterstützen heute rund zehn Millionen Menschen Amnesty International , in Deutschland sind es mehr als 150 000 Personen. Ralf Miltenberger ist seit bald 20 Jahren dabei. Mit der Gründung einer AI-Gruppe an seiner Schule in Spandau fing es an. Der Archäologe, der beruflich gerade in Rostock die mittelalterlichen Stadtspuren ausgräbt, ist nun Sprecher der Sektion Berlin-Brandenburg. In der Region hat Amnesty rund 4000 aktive und Unterstützer:innen. Vertreten in den rund 30 Berliner Gruppen seien alle Altersgruppen, es sei eine „sehr bunte Mischung“, erzählt Miltenberger.

[Das ist ein Text aus dem Newsletter Ehrensache: Der Tagesspiegel würdigt mit Deutschlands erstem Ehrenamts-Newsletter all jene Menschen, die aktiv dabei mithelfen, dass Berlin lebenswert ist und liebenswert bleibt – kostenlos und jederzeit kündbar. Melden Sie sich an unter: ehrensache.tagesspiegel.de]

Seit 60 Jahren setzen sich die Aktiven für politische Häftlinge und gefolterte Oppositionelle sowie gegen Menschenrechtsverletzungen, die Todesstrafe und kriegerische Unterdrückung ein - und außerdem gegen Rassismus, Antisemitismus und die Diskriminierung ganzer Volksgruppen. Jede regionale Gruppe sucht sich selbst ihre Schwerpunkte. Gemeinsam kämpfen sie mit Mut, Kraft und Fantasie für eine Welt ohne Menschenrechtsverletzungen.

Die Spandauer Gruppe engagiert sich aktuell für bedrohte Gewerkschafter in den USA, erzählt Ralf Miltenberger; vorher kämpfte man für eine inhaftierte iranische Anwältin.

Die „Waffen“ von AI sind auch nach 60 Jahren immer noch unverändert: Durch massenhaft versendete Petitionen und Briefe an Regierungen so viel öffentlichen Druck auszuüben und inhaftierte Menschen weltweit so bekannt zu machen, dass auch totalitäre Regime davon beeindruckt werden. „Wir leben von diesen Aktionen, die erst in der Masse Wirkung zeigen“, sagt Ralf Miltenberger. Die Arbeit habe sich in den vergangenen 60 Jahren durch die technologische Entwicklung verändert. Heute ist es viel einfacher, eine Mail zu versenden, als früher Briefe mit der Schreibmaschine zu tippen, zu frankieren und zur Post zu bringen.

Demo-Geschichte. Protest, als es das Internet noch nicht gab: Hier gingen Aktivist:innen 1985 gegen Bedingungen in der Psychiatrie in der UdSSR auf die Straße.
Demo-Geschichte. Protest, als es das Internet noch nicht gab: Hier gingen Aktivist:innen 1985 gegen Bedingungen in der Psychiatrie in der UdSSR auf die Straße.

© Amnesty

Bringen Mails und Briefe was? Lassen sich Diktatoren so einschüchtern? Ja, hat Ralf Miltenberger erfahren. „Wir können die Welt damit nicht auf einen Schlag verbessern, aber es gibt immer wieder Erfolgsmeldungen.“ Das gilt nicht nur für den „Brief-Marathon“, der immer rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember mit einem Dutzend ausgewählter Fälle veranstaltet wird.

Auch in anderen Fällen zeigten „Mails in dieser Massierung eine gravierende Wirkung“, erzählt Miltenberger; etwa wenn es bei „urgent actions“ darum geht, terminierte Hinrichtungen abzuwenden. In etwa einem Drittel der Fälle, für die sich Amnesty einsetze, würden Hinrichtungen ausgesetzt oder verbessere sich die Lage gewaltloser politischer Gefangener.

Solche Erfolge helfen gegen die Momente der Entmutigung, wenn Diktatoren trotz der Proteste nicht vor Folter und Mord zurückschreckten. Der Zusammenhalt in der Gruppe sei groß, sagt Miltenberger, man teile viele gemeinsame Erlebnisse, auch über die Arbeit an den Info-Ständen oder bei der Organisation von Demonstrationen hinaus. Ralf Miltenberger findet es besonders wichtig, dass es bei Amnesty „nicht um Ideologie geht, sondern um konkrete Fälle“.

Die Ermittlungsarbeit von Amnesty International leisten 80 sogenannte „Länder-Researcher:innen“ in der internationalen Amnesty-Zentrale in London oder in den Außenstellen. Sie sammeln und bewerten Informationen über die Menschenrechtsituation in den jeweiligen Ländern und dokumentieren die Ergebnisse in Berichten. Im Kalten Krieg hat der konkrete Einsatz jenseits der Ost-West-Block-Logik dabei geholfen, dass auch Häftlinge aus der DDR, der Sowjetunion oder aus anderen Ostblock-Ländern freikamen.

Ralf Miltenberger
Ralf Miltenberger

© privat

Unglücklicherweise ist die Welt in den vergangenen 60 Jahren nicht besser geworden. Überall auf der Welt wird heute der Einsatz von Amnesty International benötigt. Selbst in der EU.. Etwa beim Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen oder dem Mord an einer Journalistin, mit Verbindungen der Täter zur Regierung wie in Malta.

Mathias John kämpft schon seit 40 Jahren im Namen von Amnesty International gegen politische Unterdrückung. Gerade ist der studierte Chemiker, der in leitender Position in der Verwaltung der Berliner Charité arbeitet, nach sechs Jahren aus dem Amnesty-Bundesvorstand ausgeschieden. Er hat sich über viele Jahre mit der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen beschäftigt und sich für Rüstungstransferkontrollen eingesetzt. „Wir sind immer wieder erfolgreich“, sagt auch John. Ihn hat befriedigt, dass kürzlich der Öl-Multi Shell vom internationalen Gerichtshof zu Strafzahlungen wegen der Umweltverschmutzung in Nigeria verurteilt wurde und endlich auch ein internationaler Waffenhandelsvertrag unterzeichnet ist. „Diese Erfolge treiben uns immer wieder an“, sagt John und formuliert seine persönliche Erfolgsformel: „Wir müssen einfach einen längeren Atem haben als die Diktatoren und Menschenrechtsverletzer.“

Neben den direkten Aktionen mit den „Brief-Lawinen“ und der Teilhabe an globalen Kampagnen gehört zur Arbeit von Amnesty International in Deutschland eine beständige Lobby-Tätigkeit in der deutschen Politik und auch gute Kontakte zum Außenministerium. „Unsere Stimme wird gehört, weil unser Einsatz abgesichert wird durch eine exakte Recherche", betont Mathias John. Er ist weiterhin sehr aktiv. Gerade war er zu einer Veranstaltung zur Situationen im Yemen, einen Tag später ist er als Experte zum Thema Rüstungsexport ins Ausland eingeladen.

Wer mit fast unendlicher Geduld und Ausdauer gegen die Unterdrückung in aller Welt kämpft, für den sind die persönlichen Begegnungen mit jenen Menschen, für die man sich eingesetzt hat, besondere Erfolgserlebnisse - und schaffen neue Motivation. Mathias John erinnert sich an solche Treffen mit freigelassenen Häftlingen, er freut sich auch über Dankschreiben. „Wenn sich Menschen für die erfahrene Unterstützung und Solidarität in der Haft bedanken, merken wir besonders, wie wichtig unsere Arbeit ist.“

„Früher lagen die Konzentrationslager und Höllenlöcher der Welt in Dunkelheit, nun sind sie von der Amnesty-Kerze erleuchtet. Die Kerze im Stacheldraht“, sagte einst AI-Gründer Peter Benenson. „Als ich die Kerze das erste Mal anzündete, hatte ich ein altes chinesisches Sprichwort im Kopf: Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.“ Das gilt auch heute noch.

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