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Berlin: Alfred Fränkel (Geb. 1913)

An Bord nennt er sich Fred. Das klingt modern und weltläufig

Junge, wie alt bin ich?“

„Du bist jetzt 98, Opa.“

„Mann, 98! Das gibt’s ja gar nicht. Geh mal raus zu deinen Freunden und erzähl denen, du hast noch’n Opa. Der läuft ohne Stock. Werden’se nicht glauben. Ist ein Ausnahmeathlet, dein Opa. Meinst du, die Hundert schaff’ ich noch?“

Die ewige Frage nach dem langen Leben. Für Alfred Fränkel lag die Antwort nicht nur im Sport – er war Charlottenburger Seniorenmeister im Tischtennis und zog noch mit über 90 seine Bahnen im Olympiabad – sondern ebenso in der einen, sorgfältig zelebrierten Dunhill-Zigarette am Abend und einem Stückchen Schokolade zur Nacht, „da schläft man gut ein“.

Sein eigentliches Geheimnis aber war, dass er, der in den Ersten Weltkrieg hineingeboren und aus dem Zweiten spät heimgekehrt war, sich sein Lebensglück nicht mehr aus der Hand nehmen lassen wollte.

Die harte Kindheit als vernachlässigter Sohn einer Gastwirtsfamilie wollte er am liebsten vergessen, die Kriegsjahre machten ihn ein Leben lang wütend: „Die Nazis haben mir zehn Jahre geraubt.“

Das erlernte Handwerk des Metzgers ist nichts für Alfred, er möchte lieber an einem Schreibtisch arbeiten. Im Postamt Friedrichstraße findet er eine Anstellung. Dort, am wichtigsten Bahnhof zwischen Ost und West, ist rund um die Uhr geöffnet. Es sind aufregende Zeiten in den Fünfzigern, und mancher Nachtdienst fühlt sich an wie im Film. Spione und Geldschieber gehen ihren Geschäften nach, Alfred, immer an Schalter eins, sitzt mittendrin. Als seine Frau schwer krank wird, lässt er sich ins ruhigere Johannisthal versetzen. Er kümmert sich jetzt um die Familie mit den beiden Söhnen, schmeißt den Haushalt, selbst in der Mittagspause kommt er schnell nach Hause und kocht.

Es ist ein Zufall, der die Fränkels drei Wochen vor dem Mauerbau in den Westen führt. Eine Flucht in das Notaufnahmelager Marienfelde kommt für Alfred nicht infrage. Aber als ausgebombter Schöneberger hat er plötzlich Anspruch auf eine Wohnung im Westen. Den heimlichen Umzug machen sie mit der S-Bahn, mehrere Fahrten mit kleinem Gepäck.

Als seine Frau stirbt, ist er 64. Eigentlich könnte Alfred in Rente gehen, aber er arbeitet, mittlerweile als Abteilungsleiter bei einer Bank, noch ein Jahr weiter. Was soll er sonst tun? Er endeckt das Reisen für sich.

Die „MS Kazakhstan“ fährt von Bremerhafen aus in alle Welt. Im Gästezimmer seiner Wohnung hängt eine Weltkarte, darauf unzählige Pins, mit Wollfäden verbunden. Sie zeigen Alfreds Reiserouten. Außer in Neuseeland und Australien war er überall.

Noch immer ist er ein stattlicher Mann, nicht nur wenn er sich zum Captains Dinner in den Smoking wirft. Seinen schmalen Clark-Gable-Bart über der Oberlippe zieht er mit Augenbrauenstift nach. An Bord nennt er sich Fred, das klingt modern und weltläufig.

Das Leben als Frauenschwarm in den besten Jahren ist turbulent. Zu einer Skireise begleiten ihn drei Damen, elegante Golden Girls. Fred kommt erschöpft nach Hause: „Was die alles mit mir veranstaltet haben, ich dachte, die wollen mich wohl umbringen.“

Als er beim Tischtennis die zierliche Ilse kennenlernt und während einer Seniorenreise nach Mallorca auch ihr Herz gewinnt, atmet die Familie auf. „Wir waren ja froh, dass er endlich etwas zur Ruhe kam“, sagt die Schwiegertochter.

Alfred und Ilse behalten ihre Wohnungen, doch die meiste Zeit des Jahres verbringen sie bis zu Ilses Tod auf der Datsche in Prenzlau. Sie nennen sie „das letzte Paradies“. Fred kann mittlerweile nicht mehr gut sehen, Ilse kaum noch gehen, aber gemeinsam bewältigen sie liebevoll ihren Alltag, kochen jede Pflaume und jede Birne zu Marmelade ein. „Wir machen uns immer schöne Gedanken.“

Fred stürzt und muss am Oberschenkel operiert werden. Es ist klar, dass er danach nicht mehr richtig laufen wird. Auch sonst wird er für eigentlich alles Hilfe brauchen. Er entscheidet, viel zu schlafen und auf Essen zu verzichten. Weil die Ärzte ein Einsehen haben und auf Apparate, Schläuche und Magensonde verzichten, kann Alfred Fränkel, der Weltenbummler und Ausnahmeathlet von 99 Jahren seine letzte große Reise antreten.

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