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Nicht für jeden Obdachlosen ist Platz in einer Norunterkunft.

© Haarbach

Aktion für Obdachlose in Berlin: Für eine Nacht wird ihr Bett zum Schlafsack

Auch Politgrößen wie Gregor Gysi sind beim ersten Berliner „Sleep out“ dabei. Die Aktion soll auf die hohe Anzahl Obdachloser und die knappen Übernachtungsplätzen hinweisen.

Mara Fischer steht im Gang der Notunterkunft und verschränkt die Arme: „Es ist total schwierig zu entscheiden, wer bei uns übernachten darf und wen wir auf die Straße setzen müssen.“ Sie leitet die Notübernachtung für obdachlose Menschen des Vereins mob in Prenzlauer Berg. „Wir werden hier überrannt, es gibt einen riesen Rückstau auf der Straße.“

31 Plätze stellt der Verein ganzjährig zur Verfügung, damit ist die Notunterkunft die zweitgrößte ganzjährig geöffnete Übernachtungsmöglichkeit für Obdachlose in Berlin. Größer ist nur die Notübernachtung der Berliner Stadtmission in der Franklinstraße mit 73 Plätzen.

In Berlin leben derzeit zwischen 5000 und 10 000 Obdachlose

Schätzungen zu Folge leben in Berlin derzeit zwischen 5000 und 10 000 Obdachlose, von denen viele jetzt im Sommer jede Nacht um die etwa 155 Betten in ganzjährigen Notunterkünften konkurrieren. Dazu kommen bis zu 20 000 Wohnungslose, die etwa dauerhaft in Wohnheimen untergebracht sind.

Um auf die hohe Anzahl Obdachloser und die mangelnde Zahl an Übernachtungsplätzen hinzuweisen, veranstaltet mob am 15. September das erste Berliner „Sleep out“. Engagierte Bürger, Politiker und Prominente sollen gemeinsam auf dem Parkplatz vor der Notunterkunft übernachten.

Die "unsichtbaren Obdachlosen"

Der Verein will einen Austausch zwischen den Teilnehmenden und Obdachlosen ermöglichen und dabei vor allem mit gängigen Klischees aufräumen: „Viele denken, niemand müsse obdachlos sein – man kann ja einfach so zum Amt gehen“, erklärt Mara Fischer. Dabei stranden immer mehr Menschen auf der Straße, die nicht dem klassischen Bild des Obdachlosen entsprächen: Fischer spricht von „unsichtbaren Obdachlosen“, die teils arbeiten, sich elegant kleiden, Arbeitslosengeld erhalten und vermeintlich ein normales Leben führen.

Viele scheitern an der Job- und Wohnungssuche

Karen Holzinger, Bereichsleiterin für Wohnungshilfen der Berliner Stadtmission, identifiziert drei Gruppen, die den größten Teil der Obdachlosen ausmachten: Einerseits die klassischen deutschen Wohnungslosen, vom abgebrannten Geschäftsmann bis hin zum Langzeitwohnungslosen mit zumeist psychischen und Sucht-Problemen.

Dazu kämen statusgewandelte Flüchtlinge, die nach Anerkennung ihres Aufenthaltsstatus keine spezielle Unterstützung mehr erhalten, und arbeitslose EU-Bürger oft aus dem osteuropäischen Ausland. Außerdem beobachte sie eine Zunahme von deutschen Bürgern, die „etwas naiv zu Hause ihre Zelte abbrechen“ und dann „in Berlin ihr Glück versuchen“, aber bei der Job- und Wohnungssuche scheitern.

"Wir werden überall wie der letzte Dreck behandelt“

Der Doktorand Max* etwa ist seit zwei Monaten obdachlos: „Ich bin gerade in der Abschlussphase meiner Arbeit, und plötzlich hat mein Vermieter mich rausgeschmissen“, erzählt er. Die Rentnerin Brigitte* lebt seit sieben Tagen in der Notunterkunft, ihr Aufenthalt wurde gerade verlängert: „Es ist sehr schwer, eine Wohnung zu finden, wenn man einmal auf der Straße ist. Wir werden überall wie der letzte Dreck behandelt“, erzählt die 72-Jährige. Mit Minirente und Aufstockung bleiben der schwerbehinderten Rentnerin etwa 500 Euro im Monat.

„Es ist ein Skandal.“

Unfreiwillig obdachlose Menschen haben einen gesetzlich definierten Anspruch auf Unterbringung. Der Aufenthalt in den Notübernachtungen ist dabei regulär auf wenige Tage beschränkt, danach müssten die Menschen in Wohnheime oder Wohnungen vermittelt werden. In der Realität würde die Soziale Wohnhilfe der Bezirke die Menschen jedoch oft abweisen, da es keine freien Plätze in den Wohnheimen gäbe, erklärt Karen Holzinger: „Es ist ein Skandal.“

Senat plant Schaffung einer Unterkunft speziell für Familien

Rona Tietje (SPD), Bezirksstadträtin für Jugend, Wirtschaftsförderung und Soziales im Bezirk Pankow, wehrt sich gegen den Vorwurf, es gäbe keine freien Plätze in Wohnheimen: „Das kann man so pauschal nicht sagen.“ Die Bezirke seien sich der steigenden Obdachlosigkeit und des Bedarfs an Übernachtungsplätzen bewusst, das Thema habe gerade Priorität.

Die Mitarbeiter der Sozialen Wohnhilfe seien sehr bemüht, allerdings sei die Situation „in einigen Fällen sehr schwierig“. Gerade Familien könnten nur schwer vermittelt werden. Dies bestätigt auch Regina Kneiding, Sprecherin der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Daher plane der Senat die Schaffung einer Unterkunft speziell für Familien.

Auch Gregor Gysi hat bereits zugesagt

Zudem sei die Umsetzung der bereits im Koalitionsvertrag festgehaltenen integrierten Wohnungslosenstatistik in Arbeit, um einen besseren Überblick über die spezifischen Bedürfnisse der von Wohnungslosigkeit betroffenen Bevölkerungsgruppen zu erhalten. Auch die Plätze in der Kältehilfe sollen auf 1000 Betten aufgestockt werden.

Aus Sicht der sozialen Träger reichen diese Pläne jedoch bei Weitem nicht aus. Daher soll die Aktion „Sleep out“ auch dazu genutzt werden, Spenden für die weitere Finanzierung der Unterkunft zu sammeln. Die Travestie-Künstlerin und Moderatorin Sheila Wolf, die auch teilnehmen wird, erklärt: „Wenn jemand wie ich, der optisch eher auf einen roten Teppich passt, neben Gregor Gysi im Schlafsack auf der Straße übernachtet, dann sorgt das hoffentlich für Aufmerksamkeit.“

*Die Namen der Befragten wurden von der Redaktion geändert.

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