zum Hauptinhalt

Berlin: Adolf Wirth (Geb. 1937)

„In der ,Bar’ und im ‚Tipi’ ist immer einer, der kippt Sahne in seine Cola.“

Immer saß er in der ersten Reihe im Kabarett „Die Wühlmäuse“, immer auf Platz 9. Vor Beginn der Vorstellungen begab er sich in die Kantine, stellte er sich immer an dieselbe Ecke des Tresens, für ein Getränk, ein Gespräch.

„Ach, da sind sie ja“, sagten die Künstler, die kurz vor ihrem Auftritt noch einmal vorbeischauten. Gabi Decker, Gayle Tufts, Tim Fischer, Georgette Dee ließen sich mit ihm zusammen fotografieren. Zu seinem 70. Geburtstag schenkte ihm Dieter Hallervorden ein Abonnement für zwei Freikarten pro Monat für die nächsten 30 Jahre.

In den letzten 35 Jahren besuchte Adolf Wirth in den „Wühlmäusen“, in der „Bar jeder Vernunft“ und im „Tipi am Kanzleramt“ alles in allem 1789 Vorstellungen, jede davon sorgfältig dokumentiert in Kladden.

In ebenso geradlinigen, leicht geneigten Druckbuchstaben andere Eintragungen: 24. August 1973 – von Saarbrücken nach Berlin; Oktober 1992 – erste Reise in die USA; Oktober 2000 – letzte Reise in die USA; es ist so schrecklich, allein zu sein; alles öd und leer, wenn bloß der Alkohol nicht wär.

In Saarbrücken war er aufgewachsen, hier hatte er als Buchhalter in einer Autobude gearbeitet. Hier wollte er raus, raus aus dem bundesrepublikanischen Mief, raus aus der homophoben Verklemmtheit. Aber nichts glückte in Berlin. Nach zwei einsamen Jahren kam er in Spandau in der „Herberge zur Heimat“, einem Heim für Menschen, denen der Faden aus den Fingern geglitten war, unter. Er wohnte in einem eigenen Zimmer, übernahm die Buchführung der Herberge, begleitete andere Einsame zu den Ämtern und füllte deren Papiere aus, sollte 21 Jahre trocken bleiben.

Er bekam das Ende des Fadens wieder in die Hand, fand Freunde und entdeckte die Bühnen, die das Leben überschaubar erscheinen ließen. Anhaltendes Glück fand er aber kaum; ein vorübergehendes vielleicht, wenn er für eine Karte für das Programm von Georgette Dee als Erster in der Schlange an der Vorverkaufskasse stand; in ein Gespräch mit dem Herrn hinter ihm geriet; dieses Gespräch einige Zeit später, wieder in einer Schlange an einer Vorverkaufskasse, weitergeführt wurde, nach und nach zu einer Freundschaft wurde.

„Mein Kulturfreund“ nannten sie sich gegenseitig, gingen gemeinsam in die „Wühlmäuse“, die „Bar jeder Vernunft“, das „Tipi“, feierten mit Georgette Dee mitten im Sommer Weihnachten in einem Restaurant am Kurfürstendamm. Aber Adolf Wirths Kulturfreund hatte eine richtige Familie, Frau und Kinder. In den Zeiten zwischen der Kultur war er bei ihnen. Und Adolf Wirth war allein. Der Faden begann wieder, aus seinen Händen zu gleiten. In die Kladde schrieb er dann nur „Prost“, ohne jeden weiteren Kommentar.

Er zog ins Johannisstift in Spandau, ließ die Vorhänge vor seinem Fenster immer geschlossen, trat nie hinaus auf den Balkon. Und es zeigte sich, dass sein Kulturfreund auch ein Lebensfreund war. Er besorgte ihm eine Wohnung in Wedding, kam am Abend nach der Arbeit vorbei, kochte Nudeln, sprach mit ihm. Gingen sie gemeinsam aus, bestellte sich Adolf Wirth immer eine Tasse Kaffee und ein Glas Cola light. Einmal schüttete er die Kaffeesahne versehentlich in die Cola, die Umstehenden wanden sich ein wenig beim Anblick dieses bräunlich flockigen Gemischs, Adolf Wirth jedoch behauptete, es schmecke ausgezeichnet und trank von da an die Cola light immer mit Sahne. Die Geschichte von dem Herrn mit dem wunderlichen Getränk zog Kreise, wurde sogar in Hamburg erzählt: „In der ,Bar’ und im ‚Tipi’ ist immer einer, der kippt Sahne in seine Cola.“

Adolf Wirths Tagebuch endet am 6. März 2011, einen Tag vor seinem Tod. „Hausputz“ steht dort. Und: „Bin immer noch nicht O.K.“ Der 5. März noch klingt tröstlicher: „Wühlmäuse, Ein Abend für die Seele.“ Am 7. März stirbt er, an einem Herzinfarkt. „Du hast ja eine Träne im Knopfloch“, das Lied von Friedrich Hollaender, gesungen von Georgette Dee, wird auf seiner Beerdigung gespielt.

Zur Startseite