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Die Welt nur noch durch das Fenster sehen - das könnte Risikopatienten schützen. Aber ist es verhältnismäßig?

© Britta Pedersen/dpa

Abstand oder Aufstand: SPD-Frauen protestieren gegen Ausgangsbeschränkungen für ältere Menschen

Darf man ältere Menschen zu ihrem eigenen Schutz unter Quarantäne stellen? Darüber gibt es Streit in der SPD.

Von Sabine Beikler

Heftige Kritik äußern Sozialdemokratinnen aus Charlottenburg-Wilmersdorf in einem Schreiben an ihre Parteifreundin, Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD). Deren Aussage im Gesundheitsausschuss am Montag, alle über 70-Jährigen sollten in Quarantäne gehen, klinge „verdächtig nach in Schutzhaft nehmen“, steht in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt. Die SPD-Frauen seien empört über diese Aussage, schreiben sie.

Am Montag hatte die Gesundheitssenatorin im Ausschuss gesagt: „Es ist wirklich der richtige Zeitpunkt, ältere Menschen in Quarantäne zu nehmen. Alle über 70-Jährigen in Quarantäne. Das ist das einzige, was wirklich hilft. Einfach in Quarantäne zu nehmen.“ Meinte Kalayci damit eine Art „Zwangs-Quarantäne“ einer ganzen Altersgruppe?

„Ich mache mir Sorgen um die alten Menschen“, sagte Kalayci dem Tagesspiegel. „Die Todesfälle zeigen, dass sie stärker betroffen sind. Es ist ein Appell, sich in der Häuslichkeit freiwillig zu schützen.“ Dieser Schutz funktioniere aber nur, „wenn die Solidarität der Angehörigen, der Freunde und der Nachbarn vorhanden ist“.

Eine Zwangsquarantäne sei nicht in der Diskussion. „Es geht um eine freiwillige Quarantäne“, sagt Kalayci und appelliert an pflegende Angehörige und das Personal in der ambulanten Pflege, möglichst Abstand zu halten.

Überwiegende Zahl der positiv getesteten Berliner unter 60 Jahre

In dem Schreiben an Kalayci betonen Sozialdemokratinnen, darunter Evelyn Andres, Mitglied der BVV Charlottenburg-Wilmersdorf und die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Siegrun Klemmer, dass die überwiegende Zahl der positiv getesteten Berliner unter 60 Jahre alt ist. Das belegen auch die Fallzahlen der Senatsgesundheitsverwaltung von Donnerstagabend. Die meisten Infektionen, nämlich 523, betreffen die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen. Unter den 70- bis 79-Jährigen wurden bisher 71 Infektionen, unter den über 80-Jährigen 37 Fälle registriert.

Die SPD-Frauen schreiben, dass die meisten Menschen mit Vorerkrankungen sich offensichtlich in freiwillige Quarantäne begeben würden. „Sie verzichten auf den Kontakt mit ihren Familien, vor allem mit den Enkeln, sie bleiben in ihren Wohnungen, sie lassen sich Einkäufe nur noch vor die Tür stellen.“ Sie warnen Kalayci davor, ältere Menschen unter „Zwangsquarantäne“ zu stellen, wie sie schreiben. Das sei rechtlich unzulässig, da „in Quarantäne nehmen“ laut Paragraph 30 des Infektionsschutzgesetzes nur Personen betreffe, die wegen einer möglichen Erkrankung ihre Umwelt gefährden.

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Um den Schutz der älteren Menschen zu stärken, schlägt Evelyn Andres, 71, vor, darüber nachzudenken, ob man für Senioren oder die 170 000 Berlinerinnen und Berliner, die älter als 80 Jahre alt sind, bestimmte Zeiten festlegen könnte, in denen nur sie einkaufen gehen sollten.

Rechtfertigt Selbstgefährdung Zwangsmaßnahmen?

Auch Renate Citron-Piorkowski, pensionierte Richterin und frühere Verfassungsrichterin in Berlin, hat den Brief unterzeichnet. Sie ist der Auffassung, dass allein die Möglichkeit der Selbstgefährdung für irgendeine Zwangsmaßnahme nicht ausreicht. „Nach dem bisherigen Verfassungsverständnis zum Schutz des Persönlichkeitsrechts kann es keine Zwangsmaßnahme für einen Teil der Bevölkerung nur wegen dessen Selbstschutzes geben“, sagte die 70 Jahre alte Juristin dem Tagesspiegel.

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung widerspreche es dem Persönlichkeitsrecht, staatlichen Behörden zu erlauben, den Bürgern vorzuschreiben, was sie im Interesse seines Eigenschutzes zu tun haben. „Eine solche staatliche Bevormundung ist nicht verfassungsgemäß“, sagt Citron-Piorkowski.

Ausgangsbeschränkungen für ältere Menschen nicht ausgeschlossen

Weil viele der Maßnahmen zunächst nur bis nach Ostern laufen, wird in der Politik bereits über den Umgang mit Risikogruppen diskutiert, sollten einige der Beschränkungen gelockert werden. Anders als Citron-Piorkowski hält SPD-Rechtspolitiker Sven Kohlmeier es nicht gänzlich für ausgeschlossen, „dass es für ältere Menschen Ausgangsbeschränkungen gibt“. Kohlmeier führt die Frage der Verhältnismäßigkeit an: „Kann es der Mehrheit der Bevölkerung zugemutet werden, weiterhin zu Hause zu bleiben, um eine Minderheit zu schützen? Das ist eine juristische Herausforderung“, sagt Kohlmeier. Erst um Ostern herum wird es eine realistische Einschätzung geben, wie sich die bisherigen Beschränkungen auf Infektionskurve ausgewirkt haben.

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