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In den Kartons lagern die konfiszierten Datenträger der Tatverdächtigen.

© dpa

Abbildungen von Kindesmissbrauch: Berliner Großrazzia legt Daten des Grauens offen

Bei ihrer Razzia stellt die Berliner Polizei kistenweise Datenträger mit Abbildungen von Kindesmissbrauch sicher. Ein Verdächtiger ist 84 Jahre alt.

Um sechs Uhr morgens geht es los. In Schmargendorf und Spandau, in Kreuzberg und Britz. Am Gendarmenmarkt in Mitte, im Bötzowviertel am Volkspark Friedrichshain, in einem Hausprojekt in der Rigaer Straße. 

Für 42 Wohnungen und eine Gartenlaube liegen den Ermittlern an diesem Mittwoch Durchsuchungsbeschlüsse vor, rund 230 Beamte sind im Einsatz. Norma Schürmann sagt: „Das ist ein weiterer Schritt nach vorn.“

Das Ergebnis der Großrazzia wird nachmittags in Umzugskartons präsentiert, vorläufig untergestellt in einer Garage, im Innenhof des Dienstgebäudes in der Keithstraße in Tiergarten. Norma Schürmann, Leiterin des Dezernats für Sexualdelikte, wirkt zufrieden: 25 PCs, 28 Laptops, 64 Mobiltelefone, dazu USB-Sticks, CDs und diverse andere Speichermedien lagern in den Kisten. Es wird etwa ein Jahr dauern, bis alles ausgewertet ist.

Auf den Datenträgern vermuten die Ermittler Bilder und Videos von Kindesmissbrauch. Einen Monat nach Abschaltung der Darknet-Plattform „Boystown“, drei Wochen nach Verurteilung des einstigen Fußballnationalspielers Christoph Metzelder haben Berlins Ermittler den Kampf gegen die sogenannte „Kinderpornografie“ mit ihrer Razzia erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht.

Die Aktion war lange geplant und bis zuletzt geheim gehalten worden, um den Verdächtigten keine Gelegenheit zu bieten, Beweismittel zu vernichten.

Bilder über Whatsapp, Instagram und Facebook verbreitet

Die Beschuldigten sind im Alter zwischen 17 und 84 Jahren und allesamt männlich. Ihre Fälle hängen nicht zusammen, sagt Schürmann. Es gibt keinen geheimen Chatkanal, der nun zerschlagen wurde, auch keine Verbindung zur abgeschalteten Plattform „Boystown“.

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Einige der Verdächtigten sollen Missbrauchsdarstellungen über Whatsapp geteilt, andere Bilder bei Instagram oder Facebook hochgeladen haben. Ein Mann stellte angeblich Nacktbilder seiner minderjährigen Bekannten ins Netz und legte sich dafür einen Fake-Account an.

Normalerweise halten die Ermittler die Presse auf Distanz. Aber heute gibt es eine Botschaft zu vermitteln. Dass diese konzertierte Aktion überhaupt möglich sei, liege an der deutlichen Aufstockung des Personals, sagt Norma Schürmann. Zum 1. April wurden zwei neue Kommissariate eingerichtet, die nun zusätzlich zum bereits bestehenden LKA 131 für die Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen zuständig sind. 50 Mitarbeiter sind es jetzt insgesamt.

Und wie viele waren es vorher? Norma Schürmann hält inne. „Sagen wir so, es waren weniger als 30...“

Die Hinweise auf die Beschuldigten der heutigen Razzia seien allesamt von außen gekommen, etwa über „automatisierte Meldewege“. Meist bedeutet das: Die entscheidenden Informationen kamen aus den USA. Denn dort gibt es mittlerweile eine zentrale Meldestelle, das National Center for Missing and Exploited Children, und Provider sind gesetzlich dazu verpflichtet, strafbare Inhalte inklusive der IP-Adresse des jeweiligen Nutzers dort zu melden.

Einsätze in ganz Berlin: Eine Beamtin hat die Karte mit den Ermittlerteams im Blick.
Einsätze in ganz Berlin: Eine Beamtin hat die Karte mit den Ermittlerteams im Blick.

© Paul Zinken/dpa

In Deutschland existiert ein solches Meldesystem bislang nicht, und die Landeskriminalämter sind so knapp besetzt, dass die allermeisten keine Kapazitäten haben, im Netz von sich aus – zusätzlich zur Bundespolizei – nach möglichen Straftätern zu fahnden. Das gilt auch für Berlin.

Koordiniert wird die Razzia in einem lang gezogenen Raum im ersten Stock des Baus in der Keithstraße. Neun Beamte sitzen vor je zwei Monitoren, coronabedingt durch Plexiglasscheiben getrennt. Am schmalen Ende steht ein riesiger Monitor, er zeigt den Berliner Stadtplan und darauf kleine schwarze Markierungen, jede steht für eine Wohnung.

Nicht alle Objekte können an diesem Mittwoch simultan durchsucht werden. Deshalb steht nebenan noch eine Tafel mit dem zeitlichen Ablauf. Zum Beispiel: Sobald Objekt 31 durch ist, können sich die Einsatzkräfte Nummer 27 oder 44 vornehmen, je nachdem.

Stigmatisierung soll vermieden werden

Bei den Durchsuchungen sind die Beamten in Zivil unterwegs. „Wir wollen so unauffällig wie möglich vorgehen“, sagt Norma Schürmann. „Niemand soll unnötig an den Pranger gestellt werden.“ Schließlich handele es sich lediglich um Verdachtsfälle, man wolle eine Stigmatisierung eventuell Unschuldiger durch die Nachbarn vermeiden.

Ausgenommen sind Orte, an denen Gefahr droht. Etwa wenn bekannt ist, dass der Bewohner, so wie heute in einem Fall, einen Baseballschläger im Flur griffbereit lagert. Dann setzt die Polizei auf „den taktischen Vorteil“. Sechs Wohnungen werden an diesem Tag gewaltsam geöffnet.

Warum ist Deutschland derart abhängig vom Meldesystem der USA? Das ändert sich jetzt, sagt Norma Schürmann. Oder jedenfalls: Anfang nächsten Jahres. Dann soll endlich auch Deutschland eine zentrale Meldestelle erhalten. Wie in den USA seien die Betreiber der sozialen Netzwerke dann verpflichtet, strafbare Inhalte dorthin zu melden. Ermöglicht werde dies durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz.

[Lesen Sie mehr: Warum der Kampf der Berliner Polizei gegen Kindesmissbrauch lange aussichtslos war (T+)]

Allerdings gibt es ein schwerwiegendes Problem. Denn das Netzwerkdurchsetzungsgesetz regelt Straftaten und deren Ahndung in sozialen Netzwerken, nicht aber in sogenannten Messengerdiensten. Das bedeutet, dass Plattformen wie Whatsapp und Telegram überhaupt nicht vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz betroffen sind, hier wird es auch künftig keine Meldepflichten geben. Auf Telegram gibt es nicht mal eine Möglichkeit für Nutzer, den Betreiber über Missbrauchsinhalte zu informieren.

Wie effektiv die Bekämpfung durch die Einrichtung des deutschen Meldesystems dann überhaupt sein kann, ist ungewiss. „Das muss sich zeigen“, sagt eine langjährige Fahnderin.

Die Einsatzzentrale der Berliner Polizei in der Keithstraße in Tiergarten am Mittwochmorgen.
Die Einsatzzentrale der Berliner Polizei in der Keithstraße in Tiergarten am Mittwochmorgen.

© Sebastian Leber

Aktuell sieht es Dezernatsleiterin Norma Schürmann bereits als Erfolg, dass die Datenübermittlung aus den USA seit diesem Jahr unkomplizierter erfolgt. Das Bundeskriminalamt erhält die Hinweise aus den Vereinigten Staaten und gibt sie direkt an das jeweilige Landeskriminalamt weiter. Vor der Reform sei erst noch die Staatsanwaltschaft zwischengeschaltet gewesen, sagt Schürmann. 

Die am Mittwoch sichergestellten Datenträger werden nun zunächst externen Gutachtern vorgelegt. Alles strafrechtlich relevante Material geht zurück ans Dezernat und wird dort von Menschen wie Judith Dobbrow ausgewertet. Dobbrow arbeitet seit 1997 in diesem Bereich, leitet heute das Kommissariat 131. Am Mittwoch sitzt sie in der Keithstraße im ersten Stock hinter einem Schreibtisch und sagt, so eine Arbeit hinterlasse natürlich Spuren. 

Ihre eigenen Kinder hätten sich schon sehr oft anhören müssen, dass sie im Internet nicht mit Fremden chatten sollen. „Es ist nicht so, dass ich sie nicht aus dem Haus lasse“, sagt Dobbrow. Aber ja, sie sei wohl skeptischer als andere Mütter. Zum Beispiel gegenüber Fußballtrainern und Erziehern.

Im Lauf der Jahre hat Judith Dobbrow bei der Auswertung der konfiszierten Dateien Unfassbares und Unbeschreibbares gesehen. Und dennoch gebe es immer wieder Funde, die sie „perplex“ machten, sagt sie. Zum Beispiel, wenn ein Täter über viele Jahre hinweg den Missbrauch seines eigenen Kindes filme. Einfach so lange, bis die Mutter irgendwann doch mal etwas mitbekommt.

Die Durchsuchten zeigten sich kooperativ

Die Männer, deren Wohnungen an diesem Tag durchsucht werden, verhalten sich allesamt kooperativ. Das ist auch die Regel. Die meisten Täter wissen, dass sie Schlimmes anrichten. Manche bedanken sich gar nach der Verurteilung, weil sie es allein, ohne Druck von außen, nicht geschafft hätten, ihr Handeln zu verändern. 

Andere Überführte flüchten sich in Ausreden. Die Klassiker: Man sei nur zufällig beim Surfen auf die strafbaren Inhalte gestoßen. Oder man habe die Polizei bei deren Ermittlungen unterstützen und die gefundenen Dateien bei nächster Gelegenheit der Polizei melden wollen.

Früher wurden Täter, denen der Besitz von Missbrauchsabbildungen nachgewiesen werden konnte, überwiegend mit Strafbefehlsverfahren abgeurteilt. Das heißt, nach dem Schrecken der Hausdurchsuchung mussten sie keinerlei persönlichen Kontakt mehr mit der Staatsgewalt fürchten, die gesamte Kommunikation verlief per Post und endete mit einer schriftlich mitgeteilten Geldstrafe. Die Täter mussten – von der initialen Hausdurchsuchung abgesehen – niemandem ins Gesicht schauen. 

Norma Schürmann leitet die Ermittlungen zum Kindesmissbrauch.
Norma Schürmann leitet die Ermittlungen zum Kindesmissbrauch.

© Paul Zinken/dpa

Das hat sich geändert. Mittlerweile ist die Hauptverhandlung die Regel, der Täter muss den Gerichtssaal physisch betreten, trifft dort zumindest auf Staatsanwalt, Richter und Verteidiger. Diese Konfrontation habe eine Wirkung, sagen Experten.

Rund 300 Hausdurchsuchungen haben die Berliner Ermittler im vergangenen Jahr durchgeführt. Dabei kam es wegen des Personalmangels in der Vergangenheit wiederholt vor, dass Durchsuchungen auch sechs Monate nach Beantragung noch nicht durchgeführt wurden, die Anträge also verfielen.

Mit dem neuen Personal gehe es nun auch darum, einen Rückstau abzubauen, sagt Schürmann. Die Dimension dieses Rückstaus sei unbekannt. Es gebe sechs ziemlich volle Asservatenkeller. Allerdings sei nicht klar, wie viele dieser Asservate schon ausgewertet wurden.

Und wird das LKA denn nun, nach der Personalaufstockung, selbst im Internet recherchieren und verdachtsunabhängig nach Straftätern suchen? „Nein“, sagt Judith Dobbrow, „dafür haben wir weiterhin keine Kapazitäten.“ Aber reicht das neue Personal, um wenigstens das bisherige Tagesgeschäft bewältigen zu können? „Eine schwierige Frage“, sagt Judith Dobbrow. „Wir müssen sehen, wie es läuft.“

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