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Das italienische Ensemble Lapsus Lumine spielt am Freitagabend gemeinsam mit Schlagzeuger Jim Black und Ernst Reijseger am Cello im Radialsystem.

© Lapsus Lumine/ Promo

A L'Arme Festival: Berlin begrüßt die internationale Improvisations-Avantgarde

Mit den Waffen der Kunst: Bis Sonnabend sprengt das Festival für improvisierte Musik Grenzen im Radialsystem.

Zu den Waffen! Nichts anderes bedeutet das Wörtchen „Alarm“ in seiner ursprünglich französischen Form. Ausgeschrieben wird es zu „a l’arme“ – und wer sein Festival für Noise, Improvisation und experimentelle Musik so nennt, scheint es ernst zu meinen.

Selbstredend geht es hier nicht um die Kavallerie, sondern um die Waffen der Kunst – und mit denen auf Berlin loszugehen, dazu ruft das Festival nun schon seit neun Jahren alljährlich auf. Aktuell findet es im Radialsystem statt, läuft noch bis Samstagabend und markiert, sagt Gründer Louis Rastig, den späten Anfang des diesjährigen Festivalsommers - zumindest in Sachen Avantgarde.

Den Anfang zu machen, ist das Festival gewohnt. „Gegründet habe ich das A L'Arme in einer Zeit, in der die Luft in der Berliner Kulturlandschaft zwischen Maerzmusik und Club Transmediale noch recht dünn war.“ Im selben Jahr, 2012, wurde auch das Atonal-Festival nach jahrelangem Schlaf reanimiert, ein Jahr später kam das Kreuzberger XJazz Festival dazu.

Der gedankliche Sprung vom Anfang zum Vorreiter ist nicht weit – und Vorreiter, wieder im militaristischen Sinne, ist auf Französisch die Avant Garde. „Ich hatte von Anfang an den Wunsch, ein genreübergreifendes Avantgarde-Jazz-Festival zu etablieren“, sagt Rastig, „in Berlin, mit einem besonders internationalen Anspruch.

Es ging darum, zu zeigen, dass, so unterschiedlich die einzelnen Backgrounds der Musiker:innen auch sind, die Haltung der Offenheit und der Wille zum Zusammenspiel, zur gemeinsamen Improvisation und Kollaboration, strahlende, interessante Früchte tragen kann.“

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Dass Improvisation und Kollaboration nicht nur für interessante Musik taugen, sondern auch eine weltanschauliche Dimension für Rastig enthalten, deutet sich im Gespräch an. Zusammenarbeit und spontanes (Re-)Aktionsvermögen als Formel für jedwedes Zusammenleben unterschiedlicher Menschen und Kulturen, das ist eine der ältesten Stärken des Jazz – in keiner anderen Musik werden Gesellschaftsmodelle dermaßen offensichtlich auf die Bühne gebracht und dort wirklich ausgetragen.

Statt von Partituren, Dirigent:innen oder festgelegten Songstrukturen, lebt Improvisationsmusik von der Fähigkeit aller Beteiligten, sich gegenseitig Raum zu geben und einander zuzuhören. Das Risiko des Unverständnisses wird umso größer, je weiter die Musik von wohlbekannten Pfaden abweicht – und eben für dieses Abweichen stehen Avantgarden schon immer.

Internationales Line Up

Auch in diesem Jahr ist das Aufgebot international und entgrenzend. Musiker:innen verschiedener Nationen, die teils noch nie miteinander aufgetreten sind, kommen mit Lichtkünstler:innen und Bildhauer:innen improvisierend zusammen – der Begriff Jazz, im klassischen Sinne gedacht, greift daher eigentlich zu kurz. Einen großen Anteil an den Gruppen machen allerdings auch Berliner Musiker:innen aus – auch dies ein selbst gesetzter Anspruch, sagt Rastig.

Gerecht wird das Programm dem zum Beispiel mit der US-Komponistin Kali Malone, bekannt und von der Fachpresse vielfach ausgezeichnet für ihr Orgel-Album „Sacrificial Code“ (2019), die am Samstagabend mit der Wahlberlinerin Lucy Railton am Cello und dem Drone-Gitarristen Stephen O’Malley auftritt.

Oder mit dem Unstumm-Ensemble mit dem Gitarristen Nicola Hein und Trompeter Axel Dörner, deren DNS mittlerweile in so ziemlich jedem Berliner Hinterhof-Jazzclub gefunden werden dürfte – entsprechende Spurensuch-Techniken vorausgesetzt.

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Die zwei treten als Quartett mit den Lichtküstlerinnen Claudia Schmitz und Viola Yip auf – die musikalischen Improvisationen wechselwirken mit den visuellen und vice versa. Eine andere Genre-Grenze überschreitet das Moondog-Project. Ausgerechnet Moondog!, muss man in diesem Zusammenhang sagen.

Immerhin war der 1916 als Louis Thomas Hardin in Marysville, Kansas, zur Welt gekommene Komponist und Dirigent seinem Selbstverständnis nach ultrakonservativ, komponierte stets klassizistisch, erklärte Kanon und klassischen Kontrapunkt zu seinen musikalischen Idealen, während in der Neuen Musik um ihn herum längst mit Begriffen wie Aleatorik, serielle und Spektralmusik ganz andere Sphären des musikalisch Möglichen erschlossen wurden. Ausgerechnet Moondog also als Protagonist in einem auf allen Ebenen avantgardistischen Programm?

Nun, das Moondog-Projekt versteht sich als Hommage an die Legende Moondog, dessen Ästhetik schließlich auch die Minimalisten und viele zeitgenössische Jazzgrößen inspirierte. Und was das Ensemble aus dieser Inspiration Freitagabend machen wird, ist noch nicht gesagt. Gespielt wird es übrigens vom italienischen Quartett Lapsus Lumine. Drei Sängerinnen bilden einen Mini-Chor, der von einem Kontrabass getragen wird. Für das Moondog-Projekt sitzt zudem der Berliner Spitzen-Drummer Jim Black am Schlagzeug, am Cello die niederländische Filmmusik-Legende Ernst Reijseger, dessen Name seit etwa 20 Jahren in nahezu jedem Werner-Herzog-Film-Abspann zu lesen ist: Reijseger ist so etwas wie der Hauskomponist des Kult-Regisseurs.

Bei Improvisationsmusik weiß man nie vorher, was geschieht

Spannend an freien Improvisationsformaten sei, dass die Musik des Abends selbst für die Musiker:innen kaum vorhersehbar ist, weil sie spontan auf Publikum und Atmosphäre reagiert und völlig überraschende Entwicklungen annehmen kann, sagt Rastig. In dieser Grenzenlosen Improvisation sieht er auch das Alleinstellungsmerkmal des Festivals.

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„Wenn ich das A L’Arme in der Berliner Musiklandschaft verorten müsste, würde ich es programmatisch irgendwo zwischen Jazzfest und ctm ansiedeln. Fürs Jazzfest wäre unser Programm wahrscheinlich zu elektronisch, zu experimentell und performance-lastig, während es für den ctm zu jazzig und improvisationsaffin wäre.“

Rastig, Jahrgang 1987, arbeitet als freischaffender Musikkurator, betreut neben dem A L’Arme auch etwa die Monheim-Triennale kuratorisch. Auch wenn es um die Musik selbst geht, weiß er aber aus Erfahrung, wovon er spricht.

„Ich habe meine ersten kulturellen Gehversuche als Improvisateur am Klavier unternommen, aber bald festgestellt, dass das Festivalmachen beruflich noch mehr meins ist.“ Das A L’Arme hat er 2012 allein gegründet, schon im zweiten Jahr stieß Karina Mertin zur Festivalleitung dazu. Mittlerweile ist das Festival ein fester Bestandteil des Hauptstadt-Kulturlebens und wird langzeitgefördert.

13 Acts mit rund 40 Musiker:innen schlagen dieses Jahr bei 18 Konzerten auf der Bühne Alarm – auf parallele Live-Übertragungen, wie sie seit dem Lockdown üblich sind, verzichten die Macher:innen bewusst. Avantgarden kümmern sich schließlich nicht um die Nachhut – Blick nach vorn, an die Instrumente!

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