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In einer Stadt. Tagesspiegel-Redakteure Claudia Seiring (links), Frank Herold und Angie Pohlers.

© Kitty Kleist-Heinrich

9. November 1989: Was es bedeutete, mit der Mauer aufzuwachsen - und danach

28 Jahre war Berlin getrennt, seit 28 Jahren ist es vereint. Zwei Autoren erinnern sich an ihr geteiltes Leben, eine Kollegin an ihre Kindheit nach dem Mauerfall.

Claudia Seiring, 55 Jahre, geboren in West-Berlin:

Sie war vor mir da. Also immer. Als ich das Licht der Welt erblickte schon länger als ein Jahr. Gebaut im August 1961, während meine Eltern ihre verspätete Hochzeitsreise am Golf von Capri genossen und kaum begriffen, dass nicht nur ihre Stadt, sondern auch ihre Straße und ihre Familie endgültig geteilt worden waren. Die Mauer trennte fortan Berlin-Neukölln von Alt-Treptow. Und den Rest der Familie von den beiden Republikflüchtlingen, die schon 1957 und 1960 rübergemacht hatten.

Die Elsenstraße war mein Kindheitsort, wir durften immer rechts vor dem Haus auf der Straße spielen, dort war die Welt zu Ende. Auf der Ausguck-Plattform gen Ost-Berlin richteten wir uns mit unseren Puppen ein, andere Schaulustige verirrten sich kaum hierher. Wenn wir in unserer entmilitarisierten Stadt drüben Soldaten sahen, war das immer aufregend. Dass diese Mauer lebensgefährlich sein konnte, war uns bewusst.

"Aus Ost- oder West-Berlin?"

1967 zog die vierköpfige Familie nach Schöneberg, Kufsteiner Straße. Dort war auch der RIAS zu Hause, der Rundfunk im Amerikanischen Sektor. Aus dem Radio in der Küche schallte der Sender von morgens bis abends. Ob Gustav Chalupa aus Titos Belgrad, Hans Rosenthal mit dem klingenden Sonntagsrätsel und seinen Fake-Adressen für DDR-Bürger oder – Sonntags zur Mittagszeit – die Freiheitsglocke am Schöneberger Rathaus, die quasi synchron sowohl aus dem Radio als auch direkt über die wenigen hundert Meter Luftlinie erklang. Dazu das Freiheitsgelöbnis: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen...“ – der wöchentliche Gänsehaut-Moment.

„Aus Ost- oder West-Berlin?“ Egal, ob auf Sylt, im tunesischen Hammamet oder auf Sizilien – kaum hatten wir die Mauerstadt verlassen, fragten uns die Menschen diese dumme Frage. Schon als Kinder konnten wir nicht verstehen, wie irgend jemand auf der Welt glauben konnte, man würde als Ost-Berliner mal eben so nach Tunis reisen – oder gar nach Westerland. Die Unkenntnis auch Erwachsener empörte uns: Wieso wussten die nicht um das Schicksal der geteilten Stadt?

Jugend in Freiheit. Claudia Seiring hat das Leben in West-Berlin genossen.
Jugend in Freiheit. Claudia Seiring hat das Leben in West-Berlin genossen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wir wurden beneidet um unsere Stadt

Als Jugendliche genossen wir die scheinbar unendliche Freiheit Berlins. Wenn keine U-Bahn mehr fuhr, trampten wir zum Adenauerplatz, gingen ins „Superfly“ oder „Far Out“ und brachten die Nacht im „Studio“ zu Ende, das früh um vier Uhr den letzten Film zeigte. Was sollte uns schon passieren in einer ummauerten Stadt? Den Führerschein absolvierte ich mangels Umland ohne einen Meter auf der Landstraße und mit ungebremster Geschwindigkeit auf der Avus. Die Transitstrecken waren unsere Korridore nach Westdeutschland – wie alles hieß, was geografisch auf die DDR folgte. Wie wurden wir dort, im Westen, beneidet um unsere Stadt! Ohne Sperrstunde! Ohne Wehrdienst! Und nirgendwo sonst wollten wir leben.

Auf dem Flohmarkt am Potsdamer Platz kauften wir alte Männerhemden, Räucherstäbchen und Möbel für die erste eigene Wohnung mit Ofenheizung und Außenklo in Kreuzberg. Der Potsdamer Platz ist auch der Ort, an dem es mir heute nicht mehr gelingt, seine Topografie vor dem Mauerfall abzurufen.

Als wir aus dem Kino kamen, war die Welt eine andere

Obwohl ich Schabowski am Abend des 9. November 1989 gehört hatte, ging ich mit Freunden ins Kino. Spätvorstellung im Delphi an der Kantstraße. Ich konnte mir – trotz Botschaftsbesetzungen und Leipziger Montagsdemonstrationen – einfach nicht vorstellen, dass sich an dieser einzementierten Realität etwas ändern würde. Als wir aus dem Kino kamen, war die Welt eine andere. Über den Kurfürstendamm knatterten die Trabis. Wir fuhren zur Oberbaumbrücke und feierten die ganze Nacht. Am nächsten Morgen klingelten meine Cousins aus Frankfurt (Oder) an der Tür in Kreuzberg. Was für ein unfassbarer Moment.

Dass die Mauer heute genauso lange verschwunden ist, wie sie stand, ist für mich fast surreal und erteilt mir eine Lektion über die Relativität von Zeit. 28 Jahre sind so schnell vergangen. Damals war das mein ganzes Leben.

Ein Leben in Ost-Berlin

Leben mit der Grenze. An manchen Orten in der Stadt kriegt Frank Herold noch heute ein "Mauergefühl".
Leben mit der Grenze. An manchen Orten in der Stadt kriegt Frank Herold noch heute ein "Mauergefühl".

© Kitty Kleist-Heinrich

Frank Herold, 58 Jahre, geboren in Ost-Berlin

Das kleine Schwarz-Weiß-Bild im ersten Berliner Fotoalbum der Familie zeigt einen Zweijährigen am Straßenrand vor dem KaDeWe. Der Junge bin ich. Onkel und Tanten aus der vogtländischen Provinz sind in Berlin zu Besuch, ihnen wird an einem sonnigen Tag der Westen gezeigt. Der Junge sieht gelangweilt aus oder müde, er will wohl nach Hause. Es ist Frühsommer 1961. Wenig später sind solche Ausflüge nicht mehr möglich. In einer Nacht im August ist der Vater zum Einsatz der Kampfgruppe gerufen worden. Sie haben den Westteil Berlins eingemauert. Kampfgruppe – ein fast vergessenes Wort.

Pankow, Tiroler Viertel – in wenigen hundert Metern Entfernung der Mauer bin ich aufgewachsen. Die undurchdringliche Barriere in den Westen gehörte in der Kindheit so sehr zum Alltag, dass sie in meiner Erinnerung nicht einmal etwas besonders Schreckliches hat. Stellenweise wirkte sie sogar völlig absurd. Zum Beispiel, wenn man mit der S-Bahn von Pankow zum Bahnhof Schönhauser Allee fuhr. Die Schienen verliefen im Niemandsland, sowohl der Osten als auch der Westen waren hier paradoxerweise unerreichbar. Der Zug fuhr Höchstgeschwindigkeit und die Türen waren verriegelt.

Die Mauer blieb im Kopf

Sehr viel später erst wuchs das Gefühl, nicht der Westen der Stadt sei die Insel, sondern jener Teil, in dem ich lebte. Die Nähe der Grenze machte den Wunsch, sie zu überschreiten, wohl besonders groß. Doch viele Möglichkeiten gab es dafür nicht. Die Mauer wirkte bis ins Unterbewusstsein. Sie hatte sich dort so sehr festgesetzt, dass sie manchmal in meiner Vorstellung unerklärbarer Weise sogar in Städten auftauchte, in die sie gar nicht gehörte. Als die Mauer als physische Barriere fiel, blieb sie so doch im Kopf als immer wieder aufscheinende Irritation.

Manchmal kommt es noch immer an die Oberfläche, dieses „Gefühl“ für die Mauer. Es gibt, wenn man so will, mentale Triggerpunkte in der Stadt. Solche sind für mich beispielsweise die eloxierten Stahlstäbe in der Bernauer Straße, die symbolisch an den tatsächlichen Verlauf der Mauer erinnern. Nicht weniger wirkt an manchen Orten die Doppelreihe aus Kopfsteinpflaster auf mich, die einfach auf die Fahrbahn oder den Bürgersteig eingelassen ist.

Auch der Ort, den Tausende von Touristen jeden Tag für die Inkarnation der Mauer halten, lässt mich nicht unberührt. Die East Side Gallery macht mich ärgerlich. Manchem gilt die bemalte Wand am Spreeufer zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke als das letzte erhaltene Stück Hinterlandmauer. Aber wenn man die echte Mauer kennt, ist sie in Wahrheit nur Historienkitsch.

Die East Side Gallery als historisierende Resteverwertung

Im Herbst und Winter vor 28 Jahren malten die Künstler ihre Bilder grotesk, surreal, naiv, absurd, abstrakt – und nicht etwa für die Ewigkeit. Sie waren vielmehr davon ausgegangen, dass die Mauerspechte – auch ein fast vergessenes Wort – die Werke lange vor der Verwitterung in kleine Stücke zerlegen würden. Es kam anders. Spätestens seit dem Zeitpunkt aber, als vor knapp zehn Jahren das vor sich hinbröselnde Mauerstück in der Mühlenstraße grundsaniert wurde, ist das kein historischer Ort mehr. Es ist historisierende Resteverwertung. Ein großer Spaß für Touristen, zugegeben, und er sei ihnen von Herzen gegönnt. Dass diese das Bauwerk als Spaßobjekt benutzen, ist nur folgerichtig. Weder Ordnungsamt noch Wachdienste helfen dagegen, dass der anderthalb Kilometer langen Betonwall zur Projektionsfläche, zur Fototapete wird. Und die Touristen wollen nicht nur ein Bild mitnehmen, sondern auch etwas dalassen. Ihre Graffiti.

Will man das nicht, dann muss die Mauer weg. Doch mit solchen Wünschen muss man vorsichtig sein. Vor 28 Jahren wurde diese Forderung bejubelt, heute wäre sie Aufruf zur Sachbeschädigung. Oder wie steht es so schön an der East Side Gallery: „Beschädigung und Verunreinigung sind untersagt und werden strafrechtlich verfolgt!“

Das ist ein Deutsch, das dann doch wieder ziemlich authentisch an die bedrückende Geschichte dieses Ortes erinnert.

Geboren kurz vor dem Mauerfall

Vierte Generation Ost. Angie Pohlers, Jahrgang 1989, hörte etliche Geschichten über die DDR von ihrer Familie.
Vierte Generation Ost. Angie Pohlers, Jahrgang 1989, hörte etliche Geschichten über die DDR von ihrer Familie.

© Kitty Kleist-Heinrich

Angie Pohlers, 28 Jahre, geboren in Neubrandenburg

Großmütter erzählen gern Geschichten von früher. Meine tut das auch. Eine Anekdote, die sie immer wieder aus ihrem Gedächtnis kramt, trug sich Mitte der 90er Jahre zu, vielleicht ging ich schon zur Schule. Sie sprach von der DDR, dem Land, in dem ich 1989 geboren wurde und nur wenige Monate lebte. Drumherum, erklärte sie mir, gab es eine Mauer, man konnte nicht heraus. Ich, ganz Ponymädchen, war verblüfft. „Wie Pferde auf einer Koppel!“ Auch später fiel es mir schwer zu begreifen, wie das Leben meiner Familie aussah, bevor ich da war. Bevor der Eiserne Vorhang fiel.

Die Dritte Generation Ost, ein Netzwerk von Menschen, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren worden sind, beschäftigt sich seit Jahren mit ihren Wurzeln. Sie haben Bücher veröffentlicht, es gab Ausstellungen, die ihren Sichtweisen zeigen – geprägt von Erfahrungen mit Grenzen, neuer Freiheit und einer Kindheit im Umbruch. Aber die DDR reicht auch noch weit in die Biografien derer hinein, die keine eigenen Erinnerungen an die Zeit im SED-Staat haben. Es gibt, wenn man so will, eine Vierte Generation Ost.

Die Zeit der Wende - und wir Kinder mittendrin

Die DDR war für mich immer eine merkwürdige, absurde Welt, die weit weg zu sein schien. Dabei ist sie noch sichtbar. Einmal ganz direkt, als kleine Impfnarbe auf meinem Arm. Wer so alt ist wie ich und eine hat, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Osten. Und die DDR spiegelt sich auch in meinem Vornamen. Angie steht als Name ja genauso wie Cindy, Nancy, Jessica, Ronny und Mike für die Sehnsucht unserer Eltern nach Nike-Turnschuhen und MTV-Stars. Es sind Namen, über die man sich heute gern lustig macht, dabei sind sie Ausdruck eines Traums, einer utopischen Vorstellung. Der Traum wurde irgendwann wahr. Wende, Freiheit, Pauschalreisen in den Süden. Manchmal war es auch ein Alptraum. Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, zerrissene Biografien. Und die Kinder mittendrin.

Wir Ost-Nachgeborenen haben etliche Geschichten aus der Zeit vor 1989 gehört und erleben bis heute, wie sich Osten und Westen als Kultur- oder Wirtschaftsräume weiter unterscheiden – gerade, weil wir auch viele Freunde haben, deren Familien aus dem Westen kommen. Aus meinem Kassettenrekorder kam vor allem die quäkende Stimme von Pittiplatsch. Mein liebstes Kinderbuch war die deutsche Übersetzung eines russischen Bändchens, in dem auch meine Mutter gern gelesen hatte. Im Kindergarten wurde aufgegessen und danach mindestens eine Stunde geschlafen (oder so getan, damit es keinen Ärger gab) – und zwar auf jenen harten Pritschen, auf denen schon unsere Eltern gelegen hatten. Wenn wir Wendekinder heute davon erzählen, lachen wir. Die anderen gucken etwas schief.

Topflappen häkeln im "Religionsersatzunterricht"

Wir hatten Lehrer, die zum Stundenbeginn energisch „Sport frei“ riefen und Lehrer, die der DDR wesentlich mehr Platz im Geschichtsunterricht einräumten als der Bundesrepublik. Wir hatten Großmütter, die SuperIllu lesen. Begriffe wie „Wessi“ und „Ossi“ wurden, nein, werden in Familiengesprächen ganz selbstverständlich gebraucht. Wir schnappten „Horch und Guck“ und „rote Socke“ auf, wir wussten früh, was ein Westpaket und ein Intershop waren.

In der Grundschule wurde Religionsunterricht angeboten – den hat bei uns im Nordosten bloß keiner belegt. 40 Jahre atheistischer Marxismus-Leninismus hinterließen eben ihre Spuren. Dafür gab es „Religionsersatzunterricht“, wir häkelten „Topflappen für Mutti“.

Apropos Mutti: Meine ging natürlich arbeiten, und zwar nicht wenig. Als mir eine Freundin aus Mannheim erzählte, dass ihre Mutter jahrelang mit ihr und der Schwester zu Hause blieb, war ich es, die etwas schief guckte.

Die Erste ohne Pionierabzeichen

So sehr mir die DDR in den Knochen steckt, so anders als meine Eltern und Großeltern bin ich aufgewachsen. Die Erste ohne Pionierabzeichen, die Erste mit Abitur und Studium. Die Erste ohne Russischkenntnisse, die Erste, die ein Schuljahr im Ausland verbrachte. Die Erste mit Freunden aus ganz Deutschland, Freunden in der Welt. Die erste richtige und gefühlte Europäerin.

Wenn ich mir vorstelle, wie mein Leben verlaufen wäre, stünde die Mauer noch, komme ich nicht sehr weit. Mir fehlt die Fantasie, vielleicht ist das auch besser so. Es ist nicht meine Geschichte.

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