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Denkmal. Am Bahnhof Friedrichstraße erinnert eine Skulptur an die Rettung.

© imago/Schöning

80. Jahrestag der Kindertransporte aus Berlin: „Das ist meine Antwort auf Hitler“

Paul Alexander war das jüngste Kind, das mit dem Zug nach England vor den Nazis gerettet wurde. 80 Jahre sind die Transporte her. Mit Sohn und Enkel radelt der 81-Jährige jetzt von Berlin nach London.

Von Fatina Keilani

Paul war das einzige Kind seiner Mutter Eva, das noch lebte, zwei hatte sie zuvor schon verloren. Zum Zeitpunkt der „Reichspogromnacht“ 1938 war der Junge fast ein Jahr alt. Am 14. Juli 1939 überwand sich Eva und drückte ihren Sohn einer Frau in den Arm. Sie gab ihr Kind weg – und rettete es damit. Der Junge kam mit einem der letzten Kindertransporte vor Kriegsbeginn nach England. Damals ahnte sie nicht, dass sie es schon sechs Wochen später selbst auf die rettende Insel schaffen würde.

Aus Paul Alexander wurde ein erfolgreicher Rechtsanwalt, erst in London, dann in Israel. Als dem mittlerweile 81-Jährigen vor einigen Monaten ein Flyer in die Hand fiel, der auf den „Commemoration Bike Ride“ aus Anlass des 80. Jahrestags des Beginns der Kindertransporte hinwies, dachte er sofort: „Da mache ich mit!“

Vom Bahnhof Friedrichstraße nach England

Mit seinem Sohn Nadav, 34, und dem Enkel Daniel, 15, startet er am 17. Juni vom Bahnhof Friedrichstraße mit dem Fahrrad Richtung England. In Hoek van Holland nehmen sie die Fähre nach Harwich, am 22. Juni will die Gruppe in London eintreffen. 42 fahren mit, doch Paul Alexander ist das einzige „Kind“, das wirklich auf einem Kindertransport war.

Enkel Daniel (15, l.), Großvater Paul Alexander und Sohn Nadav (r.) trainieren für ihre Reise.
Enkel Daniel (15, l.), Großvater Paul Alexander und Sohn Nadav (r.) trainieren für ihre Reise.

© Privat

Der Kontakt zum Tagesspiegel kam durch die Deutsch-Israelische Juristenvereinigung zustande. Anruf in Israel am Montagmittag. „Das ist meine Antwort auf Hitler“, sagt Paul Alexander heiter. „Ich habe überlebt, ich habe eine wundervolle Familie gegründet, ich feiere meine Rettung aus der Hölle, die Deutschland 1939 war.“

Er sitze gerade beim Mittagessen in einem Restaurant in seinem Wohnort Ra‘anana, dort lerne er gerade einige Mitradler kennen. Ein 62-Jähriger fahre mit, um seine Schwiegermutter zu ehren. Sie wurde durch den Kindertransport gerettet, der Radfahrer verdankt diesem Umstand seine Frau.

Auf der Twitter-Seite von World Jewish Relief findet sich unter dem Hashtag #kindertransport80cycle Näheres über einige Teilnehmer – manche radeln zu Ehren ihrer Großeltern, andere für ihre Eltern. World Jewish Relief ist die Wohltätigkeitsorganisation der Juden weltweit und hilft Menschen in Not unabhängig von ihrer Religion.

Ein neues Leben in Leeds

Paul Alexander hatte viel Glück im Leben, auch wenn es danach zunächst nicht aussah. Sein Vater war in Buchenwald interniert, doch seiner Mutter gelang es, ihn freizubekommen unter der Bedingung, dass er Deutschland sofort verlässt. Er schaffte es nach England, besorgte dort ein Visum für seine Frau, mit dem sie in letzter Minute England erreichte – am Tag des Kriegsausbruchs.

Die Familie baute sich in Leeds ihr neues Leben auf. Leeds hatte eine solide jüdische Gemeinde. „Ich wuchs dort auf, ging zur Schule und studierte in Leeds“, sagt Alexander. „Als ich Anwalt geworden war, ging ich nach London.“ Dort lernte er 1968 Nili kennen, eine Israelin, die an der israelischen Botschaft in London arbeitete. Sie heirateten drei Monate später und beschlossen, Israel zu ihrer Heimat zu machen. Sie verließen England im Januar 1970 und ließen sich in Israel im Juni 1971 nieder. Dazwischen reisten sie um die Welt, besuchten Mexiko und die USA und arbeiteten ein halbes Jahr in New York. Reisen ist immer eine Lieblingsbeschäftigung geblieben.

Für Paul Alexander bedeutete der Neuanfang in Israel ein neues Jurastudium, eine fremde Sprache, ein weiteres Examen als Rechtsanwalt. Er schaffte alles, entschied sich aber gegen eine Kanzlei, sondern ging als Justitiar in eine Bank. Dort blieb er 30 Jahre.

Tägliches Training für die Radtour

Die Familie wuchs – Nili bekam drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Tochter Nummer eins bekam vier Kinder, der Sohn einen Sohn. Die ganze Familie ist musisch, sportlich und reist gern. Alexander sang jahrelang im Tel Aviv Philharmonic Choir, außerdem in einem Bach-Chor und einem Kammerchor, er spielt auf seinem Bechstein-Flügel, die mittlere Tochter ist Konzertpianistin geworden.

Sportlich ist die Familie ebenfalls – als 73-Jähriger war Paul Alexander mit seinem Sohn zum Trekking im Himalaya. Erst kürzlich kehrte er von einer sechswöchigen Reise durch Peru, Chile, Argentinien und Brasilien zurück, wo er mit seiner Frau unterwegs war, Andenwandern inbegriffen.

Derzeit treffen sich Großvater, Sohn und Enkel täglich, um für ihre große Radtour zu trainieren. Nach Berlin kommt das Trio am 15. Juni; zwei Tage später geht es am Bahnhof Friedrichstraße los. Dort erinnert ein Denkmal des Bildhauers Frank Meisler an die Abreise der Kinder; an der Londoner Station Liverpool Street steht ein ähnliches Denkmal von ihm, das die Ankunft thematisiert.

Durch die Kindertransporte wurden in den Jahren 1938 und 1939 rund 10.000 Kinder gerettet, nicht alle kamen nach England, manche wurden auch in die Schweiz gebracht, wie im Falle der später berühmten amerikanischen Sexualtherapeutin Ruth Westheimer.

Nicht bei allen ging die Geschichte so gut aus wie bei Paul Alexander. Viele verloren ihre Eltern in den Konzentrationslagern, einige hatten jahrelang mit Depressionen und Schuldgefühlen zu kämpfen, manche begingen Selbstmord. Paul Alexander feiert im Oktober mit Nili goldene Hochzeit. Ein erfülltes Leben also – und eine gekonnte Antwort auf Hitler.

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