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Für die Opfer. SPD-Fraktionschef Raed Saleh, Erzbischof Heiner Koch, Bischof Markus Dröge, Rabbiner Yehuda Teichtal und Chabad Lubawitsch vom Jüdischen Bildungszentrum.

© Imago/epd

80 Jahre Novemberprogrome: Politik, Glaubensvertreter und Zeitzeugen gedenken der NS-Opfer

Am 9. November jähren sich die Gewaltakte gegen Juden im Jahr 1938 zum 80. Mal. Berlin erinnerte mit mehreren Veranstaltungen an die Opfer.

Bevor im Abgeordnetenhaus die großen Reden gehalten werden, waren am Donnerstagmorgen am Mahnmal der ermordeten Juden Namen zu hören. „Peiser, Elisabeth. Peiser, Else. Peiser, Hans. Peiser, Hedwig. Peiser, Heinrich. Peiser, Helga. Peiser, Heinrich. Peiser, Ilse. Peiser, Kätje. Peiser, Kurt.“ Aus Lautsprechern klangen sie den ganzen Tag. Ohne Pause. Jeder Name – ein Opfer der Nationalsozialisten. Oft ganze Familien, die systematisch ausgelöscht wurden. Allein in Berlin insgesamt 55.696.

Eine, die das Grauen überlebt hat, betrat ein paar Minuten später das Abgeordnetenhaus. Margot Friedländer, inzwischen 97 Jahre alt und leicht gebückt, aber voller Energie. Regelmäßig besucht sie Schulen und berichtet von ihren Erfahrungen. Am gestrigen Donnerstag, zur Gedenkstunde anlässlich des 80. Jahrestags der Novemberpogrome von 1938, war sie jedoch nur stille Beobachterin. Auch Politikprominenz, darunter Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) und der frühere Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) sowie Vertreter der Kirchen und Angehörige der jüdischen Gemeinde waren gekommen – und auch wenige Vertreter der muslimischen Verbände. Die Stimmung war staatstragend. Mehr als wichtig, fand die Berliner Ehrenbürgerin Friedländer die Veranstaltung: „Was passiert ist, können wir nicht ändern, aber wir müssen immer wachsam sein.“

"Es kommt auf jeden von uns an"

Tatsächlich war es eine Gedenkstunde, die in die Gegenwart hineinragt. Erst in der vergangenen Woche sind neue Zahlen von antisemitischen Vorfällen bekannt geworden. Laut Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus wurden allein zwischen Januar und Juni in Berlin 527 antisemitische Vorfälle erfasst, vor allem körperliche Angriffe nahmen zu. Für den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland (SPD), ist das ein Alarmsignal. „Alle Menschen in unserer Stadt, auch Zugewanderte und Schutzsuchende müssen wissen: Aus unserer historischen Verantwortung heraus wird dieser Antisemitismus nicht toleriert, sondern muss bestraft werden“, sagte er in seiner Rede.

Auch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) warnte vor wieder aufkeimendem Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus. „Die Stimmung in unserem Land ist kälter geworden.“ Für den Regierenden ist es ein Werk von Rechten und Rechtspopulisten, denen sich eine wehrhafte Demokratie entgegenstellen müsse. „Es kommt auf jeden von uns an. Wir sind in der Pflicht uns zu positionieren“, sagte Müller. Und weiter: „Der 9. November mahnt uns, dass Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nicht selbstverständlich sind.“

"Reichspogromnacht war ein Test der Nazis"

Diesen Gedanken griff auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, Gideon Joffe, auf. Zwar dankte er dem Senat für die vielen Initiativen und Resolutionen, in denen sich die Politik solidarisch mit der jüdischen Gemeinde zeige, trotzdem nehme er zunehmenden Judenhass wahr. „Vielleicht hat man sich zu sehr an die Vorzüge der Demokratie gewöhnt“, sagte Joffe. Er kritisierte, dass Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit sowie Bürgerrechte zu wenig in Schulen und im öffentlichen Diskurs thematisiert und gewürdigt würden. „Indem wir die Demokratie stärken, ehren wir auch die Opfer des 9. Novembers“, sagte Joffe.

Ein ruhiges Gedenken haben wenig später die Berliner Kirchen organisiert. Von der Topographie des Terrors, wo Würdenträger Kränze niedergelegt hatten, ging es schweigend zum Holocaust-Mahnmal. Einige hundert Menschen schlossen sich dem Zug über den Potsdamer Platz an. Dort wurden inzwischen Namen mit dem Anfangsbuchstaben S verlesen. Bis in die Nacht sollte die Aktion dauern, die wegen des Schabbats am 9. November auf den 8. November am Donnerstag vorverlegt wurde.

Zur Abschlusskundgebung vor dem Stelenfeld fand Bischof Markus Dröge, Leiter der Evangelischen Landeskirche, die deutlichsten Worte: „Ich schäme mich, dass es in diesem Land wieder Agitatoren gibt, die dieses Mahnmal verhöhnen wollen.“ Für Dröge ist es eine Schande, dass jüdische Einrichtungen 80 Jahre nach der Reichspogromnacht geschützt werden müssten und Judenhass wieder zunehme. „Die Reichspogromnacht war der Test der Nazis, wie weit das Volk mitgeht“, sagte der Theologe. Angesichts von Rechtspopulismus sieht er Bürger und Christen aktuell wieder in der Pflicht. „Wir sind nicht bereit, dieses Gift sich wieder ausbreiten zu lassen.“ Und weiter: „Antisemitismus ist Gotteslästerung.“

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