zum Hauptinhalt

8. Mai 1945 in Berlin: Der Krieg ging zu Ende, das Leiden nicht

Auf Plünderungen und Vergewaltigungen folgten Hunger und Wohnungsnot, Flüchtlingselend und Trümmerarbeit. Ein Blick auf den Alltag nach dem 8. Mai - und ein neues Leben, irgendwie.

Seit Tagen haben die Waffen geschwiegen, doch am Abend des 7. Mai 1945 werden die Berliner wieder durch unzählige Salven aufgeschreckt. „Abends wildes Geschieße: Die Russen feiern den Sieg über Berlin“, notiert die Schriftstellerin Karla Höcker. Das Geballere wird kurzzeitig geradezu zum Ritual. „Die Russen haben heute den ganzen Abend Salut geschossen, für ihren Sieg“, hält die junge Brigitte Eicke zwei Tage später im Tagebuch fest. Mancher denkt, es geht wieder los.

Aber nichts geht wieder los, es ist alles zu Ende: Berlin ein Trümmerhaufen, die Bevölkerung im Krieg um über zwei Millionen Menschen geschrumpft, je nach Lage zwischen 30 und 50 Prozent des Wohnraums zerstört, ebenso die Wasser-, Strom-, Gasversorgung, die U- und S-Bahnstrecken, die Brücken vielfach gesprengt, die von Ruinenschutt und Kriegsschrott blockierten Straßen kaum passierbar, von der Versorgung mit Lebensmitteln ganz zu schweigen. Stunde null eben. Das Wichtigste in diesen Tagen und Wochen nach dem 8. Mai, der je nach Sicht und persönlichem Schicksal als Katastrophe, Zusammenbruch, Niederlage oder auch als Befreiung, Chance, Neubeginn gesehen wird: überleben, irgendwie!

Bis zu 130.000 Frauen wurden vergewaltigt

Aber wie? Und wie überlebt man unbeschadet, ohne neue Verletzungen, neue Traumata? Zahllosen Berlinerinnen gelingt das nicht: Bis zu 130.000 Mädchen und Frauen, so Schätzungen, wurden in den ersten Wochen nach Kriegsende, der „Russenzeit“, in Berlin vergewaltigt und dabei oft schwer misshandelt, teilweise auch getötet. „Frau komm“ – für sie war diese Aufforderung, mit vorgehaltener Maschinenpistole unterstrichen, oft der erste Satz, den sie von den Siegern hörten – drängend, drohend, befehlend, wie das ebenfalls allgegenwärtige „Uri, Uri“, mit dem viele russische Soldaten von den Berlinern die Herausgabe ihrer Armbanduhren forderten. Ohnehin wurde viel geplündert in jenen Tagen, auch Mobiliar, Geschirr, Kleider, ganze Wohnungseinrichtungen wurden mutwillig zerstört. Teilweise wurde gestohlenes Gut per Feldpost nach Russland geschickt: Kleider, Hüte, Stoff für die Frauen, auch Baumaterial wie Nägel, ja sogar Glasscheiben zur Reparatur des im Krieg beschädigten Hauses in der Heimat. Die Offiziere ließen ihre Soldaten oft gewähren, obwohl Stadtkommandant Nikolai Bersarin schon am 27. April „die Entnahme von Gütern und Werten und Haussuchungen bei den Stadtbewohnern“ verboten hatte.

Der Plünderung im Kleinen entsprach die Beschlagnahmung im Großen. Maschinen und Ausrüstungen wurden als Vorgriff auf künftige Reparationsleistungen demontiert und Richtung Sowjetunion transportiert, besonders in den späteren Zonen der drei Westalliierten. Sie waren zuletzt aber, ohne Fachwissen zerlegt und ohne Schutz gelagert, oft verrostet und nicht mehr zu gebrauchen. Die sowjetische Wirtschaft ließ sich damit kaum wieder aufpäppeln, wie Stalin es sich erhofft hatte.

Selbstmorde, Menschlichkeit und Verwesung

Doch war das Bild, das die sowjetischen Soldaten von sich vermittelten, alles andere als homogen. Beispielhaft sind hier die Erinnerungen eines Zeitzeugen, damals ein zwölfjähriger Junge, der von einem Offizier einen Ball geschenkt bekam. Als zwei Soldaten ihm sein Spielzeug wegnahmen und sogar, als er protestierte, eine Pistole zogen, lief er weinend davon, traf den Offizier wieder und berichtete ihm. Umgehend bekam er seinen Ball wieder, auf Befehl des Offiziers sogar gewaschen, und die Soldaten erhielten einen Tritt. Die Mutter des Jungen aber ahnte, was kommen würde: „Die werden sich bestimmt rächen!“ Und so geschah es: „Unser Haus wurde in der darauffolgenden Nacht von russischen Soldaten heimgesucht, sie plünderten und vergewaltigten einige Frauen.“

Viele Frauen wählten nach der Vergewaltigung den Freitod. Aus ganz anderen Gründen sahen zahlreiche Parteigenossen darin einen letzten Weg, sich der Verantwortung zu entziehen. In der vom Tagesspiegel herausgegebenen DVD „Berlin 1945“ ist beispielsweise ein Dachboden zu sehen, in dem sich ein Mann aufgehängt hatte. Auf dem Boden liegen seine Frau und zwei Kinder – erschossen, vergiftet, das ist nicht zu erkennen.

Ohnehin war der Tod noch allgegenwärtig. Überall lagen in den ersten Tagen nach Ende der Kämpfe die Leichen der getöteten Soldaten und Zivilisten herum, erhielten allenfalls provisorische Gräber, wo sie gerade gefallen waren. Wochenlang lag der süßliche Geruch der Verwesung in der warmen Sommerluft, denn viele Opfer lagen verschüttet unter den zusammengesackten Häusern. Erst Anfang Juni erging die Anweisung, die Toten auf Friedhöfe umzubetten. Für viele Leichen, die nicht identifiziert werden können, blieb nur das Massengrab.Särge gab es aber nur selten, meist muss ein Pappkarton genügen, umhüllt von schwarzem Papier, das Wochen zuvor noch zur Verdunkelung genutzt worden war.

Eindrücke von den Tagen danach in der Tagesspiegel-DVD:

Doch das drängendste Problem war der Mangel an Wohnraum und an Lebensmitteln. „Man schlief mal in irgendeiner vermaledeiten Pension oder man kam bei einem anderen Schauspieler unter“, habe diese Nacht da und jene dort geschlafen, so schildert es Hildegard Knef in der Tagesspiegel-DVD. Viele Wohnungen hatten Bombenschäden und waren nur noch teilweise nutzbar. Nachts mussten die Menschen aufpassen, dass sie nicht im Dunkeln in die Tiefe stürzten. Fehlte die Fassade, fand das Familienleben eben vor dem Publikum der Passanten statt. Die Berliner Schnauze fand dafür rasch den passenden Namen: „Sperlings Lust“. Doch wo es auch war: Aus den Wasserhähnen kam kein Tropfen mehr. Immerhin gab es die Straßenbrunnen, an deren Pumpen sich tagein, tagaus lange Schlangen mit Eimern bildeten. Erst Mitte Juli floss wieder Wasser aus den Leitungen, zumindest in den unteren Etagen. Für die oberen reichte der Druck oft noch nicht.

Ohne die Russen hätten viele Berliner nicht überlebt

So verheerend und traumatisch die ersten Begegnungen zwischen Siegern und Besiegten waren – ohne die Hilfe der Russen beim Wiederaufbau einer funktionierenden Stadt hätten viele Berliner den Sommer 1945 kaum überlebt. Und gerade Nikolai Bersarin, wegen seiner Verdienste seit 2003 auch wieder Ehrenbürger der Stadt, hatte in der kurzen Zeit bis zu seinem tödlichen Unfall am 16. Juni energisch und mit Erfolg versucht, die darniederliegende Stadt zum Laufen zu bekommen.

„Um die regelmäßige Versorgung der Berliner Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen, hat das Sowjetische Militärkommando durch den Kommandanten der Stadt Berlin der Stadtverwaltung ausreichende Mengen von Lebensmitteln zur Verfügung gestellt“ – so lasen es die Menschen am 13. Mai auf Plakaten überall in der Stadt. Künftig gebe es feste Rationen pro Person und Tag, in fünf Kategorien. Am besten gestellt waren „Schwerarbeiter und Arbeiter in gesundheitsschädlichen Betrieben“, weiter gab es die Kategorien Arbeiter, Angestellter, Kinder sowie „nichtberufstätige Familienangehörige und die übrige Bevölkerung“. Hinzu kamen Spezialregelungen: „Kultur- und Kunstschaffende“ beispielsweise wurden als Schwerarbeiter eingestuft, was Chören einen erheblichen Zulauf bescherte.

Lagerleben auf der Straße

Soweit die Theorie. In der Praxis jedoch sah es ganz anders aus. „Seit Tagen machen wir vergebliche Versuche, die Lebensmittelkarten zu erhalten. Hunderte, Tausende von Menschen stehen in der Reichsstraße Schlange“, schreibt die Schriftstellerin Karla Höcker am 11. Mai in ihr Tagebuch. „Inzwischen hat sich eine Art Lagerleben entwickelt. Drei Viertel der Wartenden sitzen auf mitgebrachten Stühlen; viele Frauen stricken oder stopfen Strümpfe. Kaffeetöpfe gehen reihum, manche lesen, wie ich.“ Und hatte man erst die Karten, dauerte es vielleicht noch länger, um an den Ausgabestllen die zustehenden Lebensmittel zu erhalten. Oft genug war für die Letzten nichts mehr da.

Erst aß man Pferde, dann wurde Gemüse gezüchtet

Anfangs wurden sogar bei den letzten Kampfhandlungen getötete Pferde noch auf der Straße zerlegt, später zog man Gemüse in Balkonkästen, auch versuchte sich mancher Städter als Kaninchenzüchter, wurden viele innerstädtische Freiflächen zu Äckern umgewandelt. Doch zunächst waren Hamsterfahrten in die Umgebung oft die einzige Möglichkeit, dem permanenten Magenknurren abzuhelfen, sich vor der drohenden Unterernährung, dem Verhungern zu schützen. Manche Luxusgüter wechselten damals den Besitzer, wurden gegen Kartoffeln, Gemüse, Fleisch eingetauscht, oder die Berliner gingen „stoppeln“, suchten abgeerntete Felder nach liegen gebliebenen Ähren ab, die sie zu Hause mühselig zu dreschen und zu mahlen versuchten. Oft genug wurden all diese Kostbarkeiten den Hamsterern bei Polizeirazzien an der Stadtgrenze und in der S-Bahn wieder abgenommen. Besonders nach Aufteilung Berlins in vier Sektoren Anfang Juli suchten die sowjetzonalen Beamten den Warenfluss aus dem Umland nach West-Berlin zu unterbinden.

Schwarzmarkt als Tauschbörse fürs Überleben

Die Alternative hieß Schwarzmarkt, wie ihn Marlene Dietrich 1948 in Billy Wilders „Eine auswärtige Affäre“ besang: eine Tauschbörse fürs Überleben, Ort kleiner Geschäfte wie auch großer Schiebereien, an dem Geld keine Rolle spielte, wo zur gängigsten Währung, nach Einzug der Amerikaner, „Lucky Strike“-Zigaretten wurden. Auch dort ging mancher erworbene Gegenstand, manche künftige Mahlzeit bei Polizeirazzien wieder schnell verloren, ohne dass dies den Markt austrocknen konnte.

Marlene Dietrichs "Black Market"

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Er blühte ohnehin nicht im Verborgenen, sein Zentrum war das Brandenburger Tor, das eigentliche Problem nicht, die einschlägigen Orte zu finden, sondern sie zu erreichen. Denn auch der innerstädtische Nahverkehr war zusammengebrochen, ja selbst die einzelnen Stadtteile, angesichts vieler in den letzten Kriegstagen gesprengter Brücken, waren voneinander abgeschnitten.

Oft waren Spree, Havel und die Kanäle nur balancierend auf improvisierten Stegen oder Leitungsrohren zu überqueren. Wer Glück hatte, konnte sogar ein Fahrrad hinüberschieben – immer die Gefahr vor Augen, dass es ihm schon am nächsten Tag gestohlen sein könnte. Berlin im Sommer 1945 – das war eine Stadt der Fußgänger und Radfahrer, und manch einer, dem dieses kostbare Transportmittel geklaut worden war, stahl sich eben – wie auch Hildegard Knef – ein neues und nahm es künftig nachts sogar mit in sein Schlafzimmer.

Flüchtlinge und Sehnucht nach Zerstreuung

Öffentliche Verkehrsmittel fuhren so gut wie nicht mehr. Zwar waren nach zwei Wochen alle Hauptstraßen freigeräumt und passierbar, aber von der ehemaligen Busflotte, die am 13. Mai wieder den Verkehr aufnahm, fuhren gerade noch 19 Fahrzeuge. Die U-Bahn eröffnete einen Tag später mit zwei kurzen Stummelstrecken, auch einige Straßenbahnlinien gingen wieder in Betrieb. Immerhin konnte man im Juli wieder mit der S-Bahn von Wannsee nach Schöneberg fahren, der NordSüd-Tunnel dagegen, unmittelbar vor Einstellung der Kampfhandlungen in Berlin noch gesprengt, war bis auf Weiteres unpassierbar. Privaten Autoverkehr gab es praktisch gar nicht. Gerade mal 115 Fahrzeuge waren im Juni 1945 zugelassen.

Das Straßenbild bestimmten vielmehr die Schlangen vor den Lebensmittelausgabestellen und die Ketten der Trümmerfrauen, die die Ruinenberge Brocken für Brocken abtrugen, den Schutt in Eimern wegräumten, die Ziegel von Zementresten freiklopften und säuberlich zur erneuten Verwendung stapelten. „Ab 1 Uhr mussten wir alle mit Eimern antreten und mussten die Barrikade an der Kirche wegräumen, es war ein großes Stück Arbeit und die Russen haben aufgepasst“, schrieb die junge Brigitte Eicke am 7. Mai in ihr Tagebuch, die als früheres Parteimitglied schon früh zu solcher Arbeit gezwungen wurde. Anfang Juni wurde diese Arbeitspflicht für alle Frauen zwischen 15 und 50 Jahren und für Männer zwischen 14 und 65 Jahren eingeführt. Wer sich weigerte, dem wurde rasch die Lebensmittelkarte entzogen.

Verschärft wurden die massiven Probleme der ersten Nachkriegswochen noch dadurch, dass die Zahl der Bevölkerung stieg und stieg – ein stetes Kommen und Gehen Hunderttausender von Flüchtlingen und Vertriebenen, die in die Stadt kamen, notdürftig untergebracht und dann weitergeschickt wurden. Rund 1,3 Millionen Menschen sollen zwischen Mai und November 1945 durch die Stadt gezogen sein.

Die Sehnsucht nach Zertreuung

Immerhin gab es bald schon erste Angebote zur Ablenkung von all dem Jammertal, nicht wichtig fürs physische, aber doch fürs psychische Überleben. Die Berliner waren ausgehungert nach Zerstreuung, Kultur, Kino, Konzerten, wollten schauen, hören, tanzen, leben. Am 26. Mai gaben die Berliner Philharmoniker unter ihrem neuen Dirigenten Leo Borchard im Steglitzer Titania-Palast ein erstes Konzert, spielten Mendelssohn-Bartholdy, Mozart, Tschaikowsky, tags darauf gab es im Renaissance-Theater den Schwank „Der Raub der Sabinerinnen“. Als Spielorte nimmt man, was eben noch steht, und so wechselt die Städtische Oper in Charlottenburg eben ins Theater des Westens und die Staatsoper in den Admiralspalast.

Auch Kinos machten bald auf. Mitte Mai waren es 30, Ende Juni hatte sich die Zahl mehr als vervierfacht. Bald liefen auch amerikanische und zu NS-Zeiten verbotene deutsche Filme, doch anfangs war das Programm überwiegend sowjetisch, so am 25. Mai im zwei Tage zuvor wiedereröffneten Babylon, mit einem Abenteuerfilm nach Jules Verne. Brigitte Eicke hat er nicht gefallen: „Der Film war großer Käse. ,Die Kinder des Kapitän Grand’, ein russischer Film und auch nur in russischer Sprache und man konnte nicht recht folgen, es war mehr was für Kinder.“

Die Wahrzeichen der Stadt wie das Brandenburger Tor waren durch den Luftkrieg und die Schlacht um Berlin zerstört oder stark beschädigt. Über 45 000 Tonnen Bomben waren über der Stadt abgeworfen worden.

Je nach Lage zwischen 30 und 50 Prozent der Wohnungen waren nicht mehr bewohnbar. Die Straßen waren durch Trümmerschutt und Kriegsschrott vielfach kaum noch passierbar. Viele Berliner hatten von ihrem Besitz kaum etwas retten können, ihre Habe passte auf einen Leiterwagen, wenn überhaupt. Aber immerhin waren sie in ihrer Heimatstadt, anders als die unzähligen Flüchtlinge und Vertriebenen, die Berlin in den ersten Monaten nach Kriegsende passierten, nur kurz Aufnahme fanden und weiterziehen mussten.

Zur Startseite