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775 Jahre Berlin: Einer von vierundvierzig Plänen: Die Zwei-Millionen-Metropole

Seit 1885 gab der Berliner Verleger Julius Straube seinen "Übersichtsplan von Berlin" heraus. Bis 1910 wurde die Sammlung von 44 Einzelblättern regelmäßig aktualisiert.

Schon unter dem Blickwinkel der Berliner Theatergeschichte muss das abgebildete Kartenblatt interessieren. Die letzten Änderungen im Stadtbild, die dort noch aufgenommen wurden, stammen von 1906, dem Jahr also, in dem Max Reinhardt sein Deutsches Theater in der Schumannstraße um das kleinere Nachbargebäude zur Linken erweiterte und dessen Ballsaal zu den Kammerspielen umbauen ließ – eine Erweiterung seines Spielraums, der auf der Karte gut zu erkennen ist. Damals war das Doppeltheater noch eine Hinterhofbühne, zur Straße hin zumindest teilweise durch Wohnbauten abgeschirmt, die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und später abgerissen wurden.

Die Karte ist nur ein Ausschnitt, Blatt IV. B. von 44 Einzelblättern, auf denen Berlin zu Anfang des 20. Jahrhunderts überaus detailliert abgebildet ist – samt Gebäudegrundrissen mit Erkern, Höfen, Nebengebäuden, aber auch Gleisanlagen und den Wegenetzen in Parks. Der „Übersichtsplan von Berlin“ war erstmals 1885 vom Berliner Kartografen und Verleger Julius Straube herausgegeben und dann bis 1910 regelmäßig aktualisiert worden. In jenem Jahr erschien auch der Kartensatz, dem das abgebildete Blatt entnommen ist. (Komplett gibt es den „Übersichtsplan“ für 98 Euro in der Edition Gauglitz.)

Wenige Jahre zuvor hatte Berlins Einwohnerschaft die Zwei-Millionen-Grenze überschritten, und schon der Ausschnitt mit dem Spreebogen gibt einen Eindruck von der Vielfalt des Lebens in der Metropole. Am unteren Kartenrand dominiert das zwischen 1884 und 1894 errichtete Reichstagsgebäude mit dem „König-Platz“, dem heutigen Platz der Republik, auf dem bis 1938 die Siegessäule stand. Links daneben erkennt man „Krolls Etablissement“, eine Vergnügungsstätte, an deren Standort das auf der Karte angedeutete, doch nie verwirklichte Projekt einer „Neuen Königl. Oper“ geplant war. Nach dem Reichstagsbrand 1933 fanden hier die letzten Sitzungen des – seinen Namen nicht mehr verdienenden – Parlaments statt.

Die Alsenbrücke in der Mitte des Spreebogens, die noch den Fluss wie auch die Durchfahrt zum Humboldthafen überspannte, wurde bei Kriegsende schwer beschädigt und abgerissen. Erst seit 2005 gibt es wieder einen Übergang über die Hafenzufahrt, die Hugo-Preuß-Brücke. Sie entstand im Zusammenhang mit dem Bau des Hauptbahnhofs, der in Ost-West-Ausrichtung etwa auf dem Areal des „Bahnhofs Lehrter Bahn“, zuletzt bekannt als Lehrter Stadtbahnhof der S-Bahn, entstand. Auf der Karte erkennt man noch als größtes abgebildetes Gebäude den alten Lehrter Bahnhof, der, anders als sein moderner Nachfolger, ein Kopfbahnhof war. Westlich des Bahnhofs lag der 1883 eröffnete „Ausstellungspalast“, Teil des „Universum-Landes-Ausstellungs-Parks“ (Ulap), an den heute nur noch eine kleine Grünanlage am Hauptbahnhof erinnert. 1936 wurde auf dem Gelände die Deutsche Luftfahrtsammlung eröffnet, ein Modell befindet sich im Kreuzberger Technikmuseum.

Mit dem nördlich gelegenen sternförmigen Gebäude ist ein besonders dunkles Kapitel der Berliner Geschichte verbunden. Es handelt sich um das zwischen 1842 und 1849 entstandene Zellengefängnis, das damals als hypermodern galt. In der Berliner Hausvogtei oder im Spandauer Zuchthaus wurde zuvor die Massenhaft praktiziert, nun setzte man auf Einzelhaft, sah darin eine Möglichkeit der Resozialisierung, galt doch Kriminalität gewissermaßen als ansteckend. Die Isolation in den 550 Einzelzellen ging unter dem ab 1856 amtierenden Direktor Johann Hinrich Wichern so weit, dass selbst in dem anstaltseigenen Kirchenraum die Sitze mit Trennwänden versehen waren, um jeglichen Austausch zwischen den Sträflingen zu verhindern.

Noch vor Ende der Bauarbeiten fand in diesem Raum ein Mammutprozess gegen mehr als 250 Polen statt, die 1846 in Posen einen Aufstand gegen die preußische Herrschaft versucht hatten. Im März 1848 erzwangen die Berliner Revolutionäre die Freilassung der Polen, die im Triumphzug durch die Stadt geführt wurden. 1878 wurde im Zellengefängnis der Klempnergeselle Emil Max Hödel enthauptet, der Unter den Linden versucht hatte, Kaiser Wilhelm I. zu erschießen.

Unter den Nazis wurde das Zellengefängnis teilweise der Wehrmacht unterstellt. 1944 saß dort für mehr als sieben Monate der Dichter Wolfgang Borchert wegen „Zersetzung der Wehrkraft“, der allzu treffend Propagandaminister Joseph Goebbels parodiert hatte. In einigen autobiografisch gefärbten Erzählungen hat Borchert diese Zeit beschrieben. Berühmter noch wurden die Gedichte, die der Geograf, Autor und NS-Gegner Albrecht Haushofer als Gestapo-Häftling im Zellengefängnis schrieb. In der Nacht zum 23. April 1945 – der Angriff der Roten Armee auf Berlin lief seit einer Woche – wurden er und 14 Mitgefangene von einem SS-Kommando abgeholt, angeblich um sie zu verlegen, doch endete der Weg auf dem Ulap-Gelände. Den Gefangenen wurde in den Hinterkopf geschossen, nur einer überlebte, dank dessen Aussage fand man die Toten Wochen später. In der Hand Haushofers entdeckte dessen Bruder zwölf zusammengefaltete blutbefleckte Blätter und darauf 79 eng mit Bleistift geschriebene Gedichte: die „Moabiter Sonette“.

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