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Die Zukunft liegt für Aygül Özkan im Quartier. Jedes Dach sollte eine Solaranlage haben – wie hier bereits in der Gropiusstadt.

© imago

75 Visionen für Berlin - Folge 8: Berlin muss beim Thema Nachhaltigkeit vorangehen

Die ehemalige Ministerin Aygül Özkan wünscht sich für Berlin ein Umsteuern bei der Stadtplanung.

Aygül Özkan, 49, ist Geschäftsführerin beim Zentralen Immobilien Ausschuss e.V. (ZIA). Sie war 2010 bis 2013 Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in Niedersachsen.

Wenn ich auf die Art und Weise schaue, wie wir in der Vergangenheit unsere Städte geplant und gebaut haben, stelle ich fest, dass wir dringend umsteuern müssen.

Wir arbeiten und shoppen in Zentrum, wohnen drumherum und verbannen Handwerk und Gewerbe an den Rand. Die Folgen sind für jeden offensichtlich: Morgens und abends quälen sich gigantische Blechlawinen durch die Stadt, wobei auch das über Jahrzehnte geplante und gebaute Leitbild einer „autogerechten Stadt“ das tägliche Verkehrschaos oft nicht verhindern kann.

Trotz eines gut ausgebauten U- und S-Bahnnetzes kennt zudem alle Berliner das Gefühl, sich morgens in die Bahn quetschen zu müssen, wie die sprichwörtliche Sardine.

So kann es in Deutschlands Städten nicht weitergehen – auch nicht in Berlin. Nicht nur, weil wir so in Pandemiezeiten das Infektionsgeschehen noch befeuern, sondern auch, weil wir unsere Klimaziele auf diesem Weg nicht erreichen.

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Für mich liegt die Zukunft der Stadt deshalb im Quartier. Wohnen, arbeiten, shoppen und feiern, all das sollte im Heimatquartier möglich sein. In einer typischen Immobilie brauchen wir Shopping und Gastronomie im Erdgeschoss, darüber Büros und oben attraktive Wohnungen. Um unsere Innenstädte zu retten muss auch Wohnen wieder in die Innenstädte zurückkehren, damit dort nicht mit dem Ladenschluss der ganze Stadtteil ausstirbt.

In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.
In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.

© Illustration: Felix Möller für Tagesspiegel

Ich sehe hier für Berlin eine große Chance. Denn Berlin ist weitläufig, und die Menschen empfinden schon heute das Leben in einem intakten „Kiez“, also Quartier, als besonders reizvoll. Man kann sagen: eigentlich ist Berlin in Teilen längst das Reallabor für die Stadt der kurzen Wege.

Neuen Wohnraum zu schaffen ist zudem ein wichtiges Stichwort. Wir müssen viel mehr Wohnungen bauen und dafür mehr Bauland ausweisen, Bebauungspläne schneller erstellen und auch schneller genehmigen.

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Wir brauchen dabei alle Arten von Wohnungen: günstige Mietwohnungen genauso wie hochwertige und auch Eigentumswohnungen.

Dabei müssen wir diese Wohnungstypen auch mischen, damit nicht die Vermögenden in einem Viertel, die weniger gut situierten in einem anderen Viertel wohnen. Erfolgreiche Integration, soziale Aufstiegsmöglichkeiten und gesellschaftliche Teilhabe kommen vom miteinander Arbeiten, Sprechen und vor allem auch Wohnen. Das ist mir als Deutsche mit Migrationshintergrund besonders wichtig und muss integraler Bestandteil des Berlins von morgen werden!

Aber Berlin muss und kann noch mehr. Stichwort Klimaschutz. Wenn wir die Klimaziele 2050 gemeinsam erreichen wollen, müssen alle Akteure des Berliner Wohnungsmarktes an einem Strang ziehen, denn Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Laut Studien müssten für die energetische Sanierung der Wohnungsbestände drei Milliarden Euro pro Jahr bis 2050 investiert werden.

Jedes Dach sollte möglichst bis 2050 eine Solaranlage haben

Für mehr Klimaschutz ist auch die urbane Energiewende wichtig. Während im eher ländlichen Niedersachsen, wo ich als Ministerin mitgestalten durfte, durch Biogas und Windkraft schon ein großer Beitrag geleistet wurde, um heute mehr als 40 Prozent des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Quellen schöpfen zu können, gibt es in den Metropolen noch ungenutzte Potenziale.

Jedes Dach in Berlin sollte 2050 möglichst eine Solaranlage haben, womit günstiger Ökostrom für die Mieterinnen und Mieter produziert wird. Vorher muss die Politik das Regulierungsdickicht lichten, das über diesen Mieterstromprojekten liegt.

Die Konzepte gibt es bereits. Ich wünsche mir noch ein bisschen mehr Mut und Verve, was Zukunftstechnologien angeht. Wasserstoff kann die Verkehrs- und Energiewende vorantreiben. Dazu gibt es andernorts schon erste Pilotprojekte, auch im Immobiliensektor. Auch diese Projekte funktionieren am besten im Quartiersmaßstab.

Aus meiner Sicht war Berlin schon immer ein Innovationsinkubator. Berlin hat immer davon gelebt, dass Menschen Neues probiert haben, selbst dann, wenn man das in anderen Teilen Deutschlands auch mal belächelt hat. Ich wünsche mir ein Berlin, das bei allen Zukunftsfragen vorangeht. Ich weiß, wir alle, die wir diese Stadt ausmachen, können das!

Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.

Aygül Özkan

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