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Patricia Schlesinger, (60), ist Journalistin und seit 2016 Intendantin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB). Seit Januar 2022 ist sie Vorsitzende des Rundfunkverbundes ARD.

© Thomas Ernst/rbb/

75 Visionen für Berlin – Folge 72: „Lasst uns eine Metropole der Information bauen“

Berlin kann im Jahr 2035 Medienhauptstadt sein. Im Zentrum dabei stehen höchste journalistische Standards. Ein Gastbeitrag der Vorsitzenden der ARD.

Berlin 2035. Heute mal kein Homeoffice. Sie sitzen morgens im selbstfahrenden Bus auf dem Weg zur Arbeit von Pankow nach Tempelhof. Die Push-Funktion Ihrer ARD-Kultur-App informiert Sie darüber, dass Ihre Lieblingskünstlerin Bella Poarch ein Konzert in der Mercedes Benz-Arena angekündigt hat. Sie erhalten aber nicht nur diese Information, sondern auch den Zugriff auf alle Beiträge in allen Formaten, die die ARD jemals über diese Künstlerin produziert hat.

Wer nicht selbst recherchieren möchte, kann sich natürlich eine nach seinen Wunschkriterien kuratierte Auswahl zusammenstellen lassen. Außerdem schlägt man Ihnen gleich die Alternative vor, dieses Konzert zu einem beliebigen Zeitpunkt als Hologramm in Ihr Wohnzimmer zu streamen, falls Sie an diesem Tag bereits verplant sind – oder einfach kein E-Ticket mehr bekommen. Sie entscheiden, was Sie sehen und wann Sie es wie sehen.

Dieselbe Informationsdichte erwartet Sie bei globalen Ereignissen: Regierungswechsel, Naturkatastrophen, politische Unruhen wie der überraschende Ausbruch eines Krieges, wie wir ihn im Jahr 2022 in der Ukraine beobachten mussten. In einer Welt, in der es mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und Deepfakes mittlerweile außerordentlich einfach geworden ist, komplexe Desinformationskampagnen am Küchentisch zu erschaffen, wird die Einordnung unabhängiger Quellen zum bestimmenden Qualitätsmerkmal. Die Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts haben uns gezeigt, dass die Freiheit angreift, wer die Wahrheit angreift. Dass wir unseren Augen nie trauen dürfen, sondern uns immer fragen müssen, von wem die Bilder kommen, die wir sehen. Die öffentlich-rechtlichen Sender überzeugen auch im Jahr 2035 durch Informationen, die auf seriösen Recherchen und wissenschaftlichen Analysen beruhen, um den Nutzenden die größtmögliche Freiheit in der Meinungsbildung zu garantieren.

Nachrichten aus dem persönlichen Umfeld werden wichtiger

Neben zuverlässig recherchierten globalen Ereignissen werden Sie über Themen informiert, die nur für Sie persönlich wichtig sein könnten. Hyperlokale Nachrichten, die Ihre unmittelbare Lebensumgebung, Ihren Kiez zum Thema haben und die Sie vielleicht speziell interessieren, weil Ihre Familie in der Nähe des Geschehens lebt oder Sie dort gerne in den Urlaub fahren. Je nachdem, welche Informationen Sie geteilt haben.

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Berlin, da bin ich mir sicher, ist 2035 Medienhauptstadt. Personalisierte Informationen, passgenau für jede Zielgruppe, verfügbar oder direkt – unaufgefordert – auf den individuellen Bildschirm zu „pushen“, das passt zum flirrenden Puls dieser Stadt. Eine Stadt, geprägt von einer exzellenten Presse, die ihre Inhalte aus Politik, Kultur, Wissenschaft, Sport und Wirtschaft selbstverständlich mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz publiziert, sogar ausgewählt mit virtuellen Moderatorinnen oder Moderatoren, mittlerweile routiniert eingesetztem Roboterjournalismus. Wobei der Mensch eine immer größere Rolle spielen wird, je perfekter die Technologie entwickelt wird. Denn das Menschliche bleibt un-perfekt, der Mensch besteht als nicht zu kopierendes Einzelstück.

Blick auf Berlin vom Funkturm in unmittelbarer Nähe des "Hauses des Rundfunks", in dem der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) residiert.
Blick auf Berlin vom Funkturm in unmittelbarer Nähe des "Hauses des Rundfunks", in dem der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) residiert.

© imago/Schöning

Im Zentrum stehen überall höchste journalistische Standards – die Zukunft zeigt Berlin als Metropole der Information, bietet die gesellschaftliche Möglichkeit, sich frei zu informieren. Dabei wird journalistisches Ethos zur Basis, die Vertrauen schafft. Denn Desinformationskampagnen und mediale Kriege erfordern kundige Einordnungen durch eine integre Presse, die mit journalistischer Expertise und der Hilfe von Software für die automatisierte Erkennung erfundener Nachrichten Falschmeldungen entlarvt. Schon heute sendet Berlin Signale in seine Zukunft.

Spürt nach vorne in eine Zeit, in der niemand mehr von „Digitalisierung“ sprechen wird – das Wort ist 2035 veraltet, wir erinnern uns an „Neuland“. Sie können diese Zeichen in der Stadt und in Ihrem Leben überall sehen. Stromladesäulen, das Bezahlen mit dem Handy, Ihr elektronisches Schlüsselbund.

In Berlin werden viele Nachrichtentechnologien schneller ankommen

Werden sich derartige technologische Entwicklungen nicht überall auf der Welt verbreiten? Was haben sie speziell mit Berlin zu tun? Ganz einfach – in Berlin, so denke ich, wird man schneller in der neuen Welt ankommen, weil Urbanität schon immer bedeutet hat, offen für den Wandel zu sein, Veränderung zu erleben, das Neue ins Leben zu integrieren.

Vielleicht auch, weil die Zukunft hier immer schon ein bisschen in der Gegenwart existiert. Weil die Stadt sich biegsam, wie ein Weidenzweig zwischen Kaiserreicharchitektur und smartem Bauen, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Spree-Athen-Nostalgie und Tech-Orientierung spannt. In Berlin umarmen wir diesen fluiden Status, der uns das größte Entwicklungspotenzial verspricht.

Welche innere Stärke Berlin besitzt, ließ sich beispielsweise an der nicht erlahmenden Leidenschaft für Kultur in den Zeiten des absoluten Lockdowns ablesen. Eine Phase, in der der RBB im Zusammenwirken mit der Kultur immer wieder digitale Bühnen und Präsentationen bereitstellen konnte, große Konzerte und kurze Filme präsentieren durfte. Das Fazit: Die Berliner Kultur kann digital und damit kann Berlin Zukunft. Denn ohne seine vibrierende, aufregende Kultur wäre Berlin nicht, was es ist.

Gastautorin Patricia Schlesinger skizziert den Wandel der Medien in der Hauptstadt - und darüber hinaus.
Gastautorin Patricia Schlesinger skizziert den Wandel der Medien in der Hauptstadt - und darüber hinaus.

© rbb/Oliver Ziebe

Vor der Pandemie entwickelte sich die Medien- und Kreativbranche in der Stadt mit 36 Milliarden Euro Umsatz und über 235.000 Beschäftigten zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor. Ich bin überzeugt, dass Berlin führend im Mediengeschäft bleiben wird, ein Kompass, nach dem man sich ausrichtet. Die ideenreiche Hauptstadt, in der sich moderne Technologie mit der bodenständigen Kraft des Mittelstands verbindet. Wo mit der Dynamik der Digitalisierung Berufsfelder und Dienstleistungsbereiche erschlossen werden und vom klassischen Medienunternehmen bis zur Games-Produktion das charakteristische Fluidum von Berlin als Lebenselixier und Inspirationsquelle verstanden und genossen wird. Und zwar international. Technologie ändert nichts daran, dass Berlin tolerant, freiheitsliebend, divers und wild ist und eine starke Anziehungskraft auf kreative und kluge Menschen aus aller Welt ausübt.

Sauber recherchierte Fakten werden noch wichtiger werden

Durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 und den erschreckenden Angriff auf die Ukraine zwei Jahre später habe ich zwei wichtige Einsichten gewonnen. Erstens, dass wir zwar versuchen können, die Zukunft nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten und das auch tun sollten. Zukunft ist aber bekanntlich nicht linear – und menschliches Versagen, Handlungsweisen von gegen alle Regeln verstoßende Einzelpersonen sind nicht kalkulierbar.

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Zweitens ist mir deutlich geworden, dass den Menschen die Vermittlung und Einordnung von sauber recherchierten Fakten noch wichtiger geworden sind. Deswegen weiß ich, dass wir beim RBB mit dem Bau unseres neuen Medienhauses richtig liegen.

Schon heute arbeiten wir im Crossmedialen Newscenter am Theodor-Heuss-Platz in Charlottenburg mit modernster Technik und produzieren mit großer Publikumsnähe, beispielsweise indem wir dorthin Nutzerinnen und Nutzer einladen, transparent nachzuvollziehen, wie wir arbeiten, welche Quellen wir heranziehen, wo im Sendegebiet unsere Regionalkorrespondenten tätig sind und wie wir unsere politische Unabhängigkeit sicherstellen.

Dass die digitale Welt die Sehnsucht nach einem Sein, das über die zwei Sinne Sehen und Hören hinausgeht, nicht ausschließt, bereichert meine Vorstellung vom zukünftigen Berlin. Denn wir werden zwar unser Leben zunehmend mit Digitalem verschmelzen, aber kein entweder oder, sondern ein Miteinander praktizieren und nicht auf Sinnlichkeit verzichten; vielmehr wird das eine als Ergänzung zum anderen verstanden werden – ganz selbstverständlich. Die digitalen Möglichkeiten, sich über die Welt und den Kiez zu informieren, wachsen, und im Netz können wir Weltkultur und Weltpolitik ebenso wie Nachbarschaftsaktionen erleben.

Doch wir werden weiter in Ausstellungen und Museen Kunst und Geschichte hautnah erleben, werden Lesungen besuchen, in Clubs die Nächte durchtanzen, Theater- und Opernaufführungen beklatschen, im Kino Händchenhalten oder einem Ballett in der Staatsoper zujubeln. Und hinterher werden wir noch ein wenig in unserer ARD-Kultur-App stöbern, welche weiteren Inszenierungen es dort online noch zu entdecken gibt, welche politische Dimension hinter einem Film aus einem Krisengebiet steht und welche Premieren wir in unserer Stadt nicht verpassen sollten.

Patricia Schlesinger

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