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Vorbild Finnland. Kinder werden dort individuell gefördert. Doch dazu braucht es mehr Personal, meint unsere Gastautorin.

© Sebadelha Julie/ABACA/Wort & Bild Verlag - Gesundheitsmeldungen/obs

75 Visionen für Berlin – Folge 50: "Ideen aus der Welt klauen und in Berlin noch besser machen"

Berlin sollte sich bei Bildung und Digitalisierung an Ideen anderer Länder orientieren. Ein Gastbeitrag.

In Berlin gibt es schätzungsweise mehr als 1000 Dönerbuden. Ein Gastarbeiter mit Unternehmergeist, Kadir Nurman, steckte 1972 zunächst Fleisch in ein Fladenbrot, später kamen der Salat und die Saucen dazu. Der Rest ist Geschichte. Berlin ist eine lebendige Stadt, die in allen Ecken dieser Welt Inspiration findet und daraus Neues schafft. Das ist für mich Berlin, und ich liebe dieses Berlin.

Eine kulturell vielfältige Stadt, geprägt durch die Menschen, die aus aller Welt zu uns kommen. Meine Vision für Berlin ist genau das: Ich möchte, dass Berlin sich bei Bildung, Chancengerechtigkeit und Digitalisierung die besten Ideen aus aller Welt klaut und sie hier noch besser macht.

Ich möchte ein politisches Dönerberlin! Was die Berliner Gastronomie, Kunst- und Kulturszene verstanden hat, scheint in der Politik noch nicht angekommen zu sein. Dabei sind Inspiration und Veränderung dringend nötig. In unserer Stadt gibt es himmelschreiende Ungerechtigkeiten.

[Die Autorin Carolin Behr, 31 Jahre, hat die vergangenen Jahre als Ärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im St. Joseph Krankenhaus in Berlin gearbeitet, bis sie zur Spitzenkandidatin der Partei Volt für die Berliner Abgeordnetenhauswahlen gewählt wurde. Lesern Sie alle bisher erschienen "Visionen für Berlin" hier.]

Ich bin Ärztin. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie habe ich einmal erlebt, wie einer Berliner Schule erst am Ende des Schuljahres aufgefallen ist, dass ein Schüler das ganze Jahr lang gefehlt hat. Das ist für mich symptomatisch. Die Hauptstadt der sogenannten Bildungsrepublik Deutschland vergisst ihre Kinder. Der Corona bedingte Lockdown hat die Situation von Kindern und Jugendlichen nochmal verschärft: Angststörungen, Depressionen, Essstörungen haben zugenommen.

Jedes dritte Kind zeigt mittlerweile psychische Auffälligkeiten.

 75 Visionen
75 Visionen

© Illustration: Katrin Schuber/Tsp

Die Betroffenen brauchen Behandlung, doch die Wartelisten für Therapieplätze sind voll. Junge Menschen warten oft monatelang, bis ihnen zuständige Mitarbeiter:innen beim Jugendamt zugeteilt werden. Wir können solche Probleme lösen – und perspektivisch sogar vermeiden. Wir müssen nur den Blick über den Tellerrand unserer Bundesrepublik wagen.

Andere Städte und Regionen Europas haben ähnliche Probleme bereits gelöst.

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Bei meiner Arbeit im Krankenhaus habe ich verstanden, wie extrem unterschiedlich entwickelt Kinder bei ihrer Einschulung hinsichtlich Sprache und Sozialverhalten sind.

All das lässt sich in der Schule kaum noch ausgleichen. Ungerechtigkeit beginnt früh: in der Schwangerschaft, bei der Geburt, in den ersten Lebensjahren. Hebammen und Erzieher:innen dagegen können einen riesigen Beitrag leisten, diese Ungerechtigkeiten auszugleichen. Das Problem: In Berlin gibt es lediglich 900 Hebammen, und auch die Geburtshilfe und die Kitas sind völlig unzureichend ausgestattet.

Carolin Behr, Spitzekandidatin Volt Partei.
Carolin Behr, Spitzekandidatin Volt Partei.

© Jan Philip Welchering/frei

Auch, wenn es überraschend klingen mag, England macht da vieles besser. Dort hat die Politik vor wenigen Jahren umgesetzt, was die Wissenschaft längst weiß: Investitionen in die frühkindliche Entwicklung und Familienförderung zahlen sich aus.

Sie führen zu wirtschaftlich besser aufgestellten Familien, stabileren Beschäftigungsraten und damit auch qualitativ besseren Wohn- und Lebensstandards. Ein solcher präventiver Ansatz wie in England – also eine intensive Unterstützung von Schwangeren, eine gut ausgestattete Geburtshilfe und die Förderung von frühkindlicher Entwicklung – spart dem Staat sogar Geld. In Berlin scheint man das nicht verstanden zu haben.

Versuche, das Problem anzugehen, sind gescheitert. Wir haben jetzt die Chance, Modelle zu implementieren, die Kindern und Familien anderswo nachweislich und erfolgreich helfen. Berlin hat deutschlandweit die zweithöchste Schulabbrecherquote. Es fehlen zirka 3000 Lehrer:innen, nur um die aktuellen Stellen zu besetzen. Von den Lehrer:innen, die wir haben, sind 40 Prozent Quereinsteiger:innen.

Es lohnt sich ein Blick nach Finnland - auf jedes Kind wird individuell eingegangen

Mit dieser Situation sind alle überfordert – Schüler:innen, Eltern und Lehrkräfte. In den vielen Gesprächen mit Lehrer:innen in den vergangenen Monaten wurde mir durchweg gespiegelt: Es braucht dringend Entlastung und professionelle Betreuung. Um zu verhindern, dass so viele junge Menschen ohne Abschluss das Bildungssystem verlassen, benötigt Berlin mehr Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen an den Schulen.

Und zwar jeweils eine pro Klasse. So hoch ist der Bedarf. Da lohnt sich ein Blick nach Finnland. Nach dem Motto „Ein ganzes Dorf erzieht ein Kind“ wird dort mit Dreier- Teams pro Klasse auf die Bedürfnisse jedes Kindes individuell eingegangen. Jedes Kind bekommt einen eigenen Lehrplan.

Die Kompetenzen für Digitalisierung müssen in der Senatsverwaltung gebündelt werden

Umgesetzt werden diese gemeinschaftlich von Teams aus Psycholog:innen, Lehrer:innen und Sozialpädagog:innen. In den Kinder- und Jugendpsychiatrien in Berlin wird exakt so gearbeitet – ich habe miterlebt, wie gut diese Art zu arbeiten funktioniert. In Finnland führte das zu einem Bildungssystem, das weltweit als eines der besten gilt – und das mit weniger Stunden, mehr Ferien und weniger Hausaufgaben.

Warum sollte das nicht auch in Berlin funktionieren?

Damit diese und andere Pläne funktionieren braucht es eine Revolution: Eine Verwaltungsreform. Es gibt viele gute Ideen für diese Stadt, oft sogar das Geld. Aber trotzdem schaffen wir es nicht, diese Projekte zügig umzusetzen.

Corona hat es uns gezeigt: die Gelder flossen zu langsam, Schulen wurden nicht digitalisiert. Berlins Kinder, die nicht unterrichtet werden konnten, waren die Leidtragenden. In Estland funktioniert das besser.

Talente aus der digitalen Szene müssen für die Verwaltung gewonnen werden

Die Verwaltung wurde dort bereits vor vielen Jahren komplett digitalisiert, was den Menschen das alltägliche Leben erleichtert. Um die Berliner Verwaltung zu digitalisieren, gibt es aktuell zu viele verteilte Zuständigkeiten.

Die Verantwortlichen kommunizieren nicht gut miteinander. Die Kompetenzen für Digitalisierung müssen in einer Senatsverwaltung gebündelt werden.

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Damit die Strategie und die Budgetvergabe für die Digitalisierung aus einer Hand kommen. Doch auch die Art zu arbeiten muss sich in der Verwaltung ändern. Es braucht gemeinsame Projektarbeit und eine stärkere Einbindung der Bürger:innen.

Talente aus der digitalen Szene müssen für die Verwaltung gewonnen werden, indem man ihnen konkrete Umsetzungsmöglichkeiten und flexible Arbeitsbedingungen anbietet. Nur mit solchen Strukturen können die nötigen Reformen wie eine stärkere Vernetzung der Schulen, der digitale Ausweis und die effektive Betreuung für Gründer:innen und Start-ups effektiv umgesetzt werden. Berlin soll das Beste von dem vereinen, was anderswo funktioniert.

Unsere Partei Volt ist bereits in 30 Ländern, mit mehr als 15000 Mitgliedern aktiv – das haben wir in vier Jahren geschafft. Wir lernen von Ansätzen, die sich woanders bereits bewährt haben, damit alle in unsere Stadt die Möglichkeit haben, sich zu entfalten. Denn gemeinsam können wir Politik besser!

Carolin Behr

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