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Die guten Saiten. Musik habe nicht nur einen geistigen und kulturellen Wert, sondern sei auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für Berlin, meint unser Autor.

© picture alliance/dpa

75 Visionen für Berlin – Folge 41: „Berlins Musikleben wird noch zu klein gedacht“

Es gibt in der Stadt viele Orchester, Chöre und unzählige kleine Projekte. Doch es geht noch besser und größer. Ein Gastbeitrag.

Zeitweilig war sogar das Singen verboten während der Corona-Pandemie, aber das wurde später vom Senat als Fehler bezeichnet und korrigiert. Berlin ohne Musik, das ist wie ein Essen ohne Salz.

Andere Städte mögen nur laut sein, Berlin hat seinen eigenen Klang, der nicht auf Genres oder Musikstile festgelegt ist. Die Berliner Schnauze ist weltberühmt – nicht nur wegen ihrer Schlagfertigkeit, sondern auch, weil der Berliner oder die Berlinerin für alles und jeden ein Lied hat. Eher laut als schön hat sich Berlin wie es singt und klingt zur Musikstadt gemausert: vom Gassenhauer bis zu den Tempeln der Klassik, vom Kiez-Chor bis zur Konzernzentrale von Universal ist Berlin zur Musikstadt geworden. Und nicht erst seit heute zu einer der wichtigsten der Welt:

Mit seinen sieben Profi-Symphonieorchester, davon mehrere von Weltrang und mit seinen drei Opernhäusern ist Berlin weltweit die Stadt mit den meisten Opernabenden pro Jahr. Berlin hat die größte Musikschule Deutschlands – die Leo-Borchard-Musikschule in Zehlendorf mit mehr als 6500 Schüler:innen –, der Berliner Chorverband umfasst mehr als 290 Chöre mit 11000 Mitgliedern.

Gastautor Andreas Richter. Er ist ehemaliger Direktor des Deutschen Symphonie-Orchesters, betreibt seit 2013 eine Beratungsfirma für Kulturmanagement und lehrt dazu an mehreren Hochschulen.
Gastautor Andreas Richter. Er ist ehemaliger Direktor des Deutschen Symphonie-Orchesters, betreibt seit 2013 eine Beratungsfirma für Kulturmanagement und lehrt dazu an mehreren Hochschulen.

© Mike Wolff, TSP

[Andreas Richter ist ehemaliger Direktor des Deutschen Symphonie-Orchesters, betreibt seit 2013 eine Beratungsfirma für

Kulturmanagement und lehrt dazu an mehreren Hochschulen.]

Berlin ist aber auch Wohnort für Tausende freischaffender Musiker:innen, die hier gute Bedingungen zum Leben und Arbeiten vorfinden oder einfach nach dem Studium an einer der beiden Musikhochschulen beziehungsweise Universität der Künste geblieben sind. So leben hier Musiker:innen aus der ganzen Welt und bereichern die hiesige Kultur mit den musikalischen Traditionen aus aller Welt, lernen und pflegen diese am Konservatorium für türkische Musik oder der Werkstatt der Kulturen und sind alljährlich nicht nur beim Karneval der Kulturen sichtbar.

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Man könnte diese in fast jeder Disziplin rekordverdächtigen Aufzählungen beliebig fortsetzen – interessanter ist aber ein Blick in die Zukunft und auf die Potenziale der Musikstadt Berlin. Berlin braucht gleichzeitig die Breite – das niederschwellige Angebot im Kiez um die Ecke – aber auch die Dichte und Qualität, die erst die internationale Ausstrahlung bewirken kann.

[Lesen Sie alle bisher erschienen Beiträge unserer Serie "75 Visionen für Berlin" hier.]

So wäre es mehr als wünschenswert, wenn um die Philharmonie herum mit den alten und neuen Museen gemeinsam ein inhaltlich konzipiertes Kulturforum zusammenwächst.

Hier sollten die verschiedenen Künste eine tiefere Verbindung eingehen und der Stadtraum gestaltet werden, im Sinne eines antiken Forums als kommunikatives wie geistiges Zentrum für die Bürger:innen der Stadt gestaltet werden.

Im Humboldtforum wiederum könnte ein Zentrum für Weltmusik aufgebaut werden, das vom historischen Schallarchiv über interdisziplinäre Ausstellungsformate bis hin zur Einbindung der in Berlin lebenden Musiker aus der ganzen Welt die Offenheit und Neugier der Stadt zeigt und fördert.

75 Visionen für Oslo
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© Illustration: Katrin Schuber, TSP

Berlin braucht trotz Philharmonie und Konzerthaus, die im Übrigen dauernd überbucht sind, einen weiteren exzellenten großen Konzertsaal – ideal könnte dafür die Abfertigungshalle des Flughafens Tempelhof umgebaut werden (ähnlich wie in São Paulo, wo ein ehemaliger Bahnhof zum bemerkenswerten Sala São Paulo umgebaut wurde). Überhaupt Tempelhof: Das riesige Gebäude kann als Standort für Probenräume für Bands aller Couleur, Räume für Clubs bis vom Untergrund bis hin zur Dachterrasse, Säle für Chöre und Orchester wie die Rundfunkklangkörper der ROC, Unterrichtsräume für Musikschüler aber natürlich auch Ateliers und Werkstätten ein Jahrhundertprojekt für die Kulturszene Berlins werden, genauso wie für Start-ups der Kreativindustrie und Musikwirtschaft.

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Musik und Kultur hat ja – und das hat die Corona-Pandemie gelehrt – nicht nur einen geistigen und kulturellen Wert, sondern ist auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.

Auch in der Musikwirtschaft ist Berlin führend: Neben Universal und BMG zieht ja nun auch die Zentrale von Sony Music nach Berlin, mit „idagio“ ist auch das größte Streaming-Portal für Klassik hier angesiedelt.

Es gibt mehr als 170 Studios aller Größen, 600 Labels, 150 Musikverlage – insgesamt zirka 1600 Unternehmen und mehr als 15 000 Erwerbstätige in der Musikindustrie, die einen Umsatz von 1,1 MilliardenEuro erwirtschafteten.

Mit einer geschickten Ansiedlungspolitik kann Berlin ein exzellentes Cluster aus Forschung und Vermarktung digitaler Musikformate bilden, wenn es gelingt, TU und UdK mit den Unternehmen der Kreativindustrie zu verlinken.

Mit dem Musicboard und der Music Commission gibt es bereits hervorragende Netzwerke, eine Leistungsschau in Form einer internationalen Musikmesse sollte sich dann von selbst ergeben.

Beim Senat gibt es endlich eine Stelle, die für Kulturräume zuständig ist

Eine Stadt wie Berlin braucht Raum für Experimente. Nur einige Beispiele: Das StegreifOrchester – heimisch im Radialsystem – wagt es, über heilige Klassik von Brahms und Beethoven zu improvisieren; das Ensemble Mini verkleinert Symphonien von Mahler und anderen auf ein Taschenformat und das in entspannter Clubatmosphäre in der Musikbrauerei; das Ensemble LUX:NM entwickelt neue Konzepte zeitgenössischer Musik, unter anderem im im Silent Green, einem ehemaligen Krematorium im Wedding. Aber diese Räume wollen gesichert und ausgebaut werden – und Raum ist in der wachenden Großstadt bekanntlich knapp. Beim Senat gibt es nun endlich eine Stelle, die für Kulturräume zuständig ist.

Berlins Musikleben leidet noch immer daran, dass vieles zu klein gedacht wird: Warum das Musikfest Berlin einen Etat hat, den selbst kleine Festivals auf dem Lande locker überbieten, versteht niemand, zumal die Berliner Festspiele noch in den 1990ern ganz andere Möglichkeiten und damit auch eine großartige Strahlkraft hatten. Es braucht hier Leuchttürme, die mit andern Musikstädten wie London oder Wien mithalten können, und das hängt in erster Linie an der Finanzierung – das kreative Potenzial wäre vorhanden. Initiativen wie XJAZZ ergänzen das staatlich geförderte Jazzfest durch Originalität und durch dezentrale und publikumsnahe Strukturen und könnten im Zusammenklang sicher noch gewinnen.

Und warum nicht Ultraschall und Märzmusik zu einem großen Festival der Neuen Musik zusammenlegen und vernünftig ausstatten?

Wo bleibt das gemeinsame Festival der drei Opernhäuser, um einmal im Jahr die Stärken Berlins hier weltweit sichtbar zu machen?

Berlin ist große genug, um mehrere Zentren von Kultur und Musik zu halten

Und wo bleiben die guten Berliner Traditionen des Unterhaltungstheaters – Operette, Musical, Kabarett? Wo heute neben dem Friedrichstadtpalast wenig glänzt?

Andere Beispiele der Kleinstaaterei sind die Bezirke. Berlin ist groß genug, um mehrere Zentren von Kultur und Musik zu halten, aber die Bezirke bräuchten Finanzierung für Konzerte, die über Kammermusik hinausgehen – Orchester, wie die Berliner Symphoniker, haben das früher vorgemacht, wie man auch in den Bezirken, die ja alle in Wirklichkeit eigene Großstädte sind, Konzertserien aufbauen kann.

Hier geht es auch um Infrastruktur, Spielstätten drinnen wie draußen, denn Berliner lieben den freien Himmel als Konzertkulisse. Musik in Berlin basiert auf dem Publikum und auf seiner Bildung und Förderung.

Es gibt wunderbare Projekte wie die „Vokalhelden“ der Philharmoniker oder die vielen Schulorchester, den Wettbewerb „Jugend musiziert“ oder auch die Bandförderung.

Ein Kulturfördergesetz ist Pflichtaufgabe

Aber es geht noch besser und größer. Der Landesmusikrat hat in jüngster Zeit sehr vorgelegt, nun sollte eine umfassende Strategie folgen, um Berlin für die Zukunft als Musikstadt fit zu machen.

Dazu gehört sicher ein Kulturfördergesetz, welches Kultur zur Pflichtaufgabe öffentlicher Förderung macht analog zum Sport. Aber es braucht auch eine Wende in der Schulpolitik, die die musischen Fächer zu einer Priorität macht.

Hier fehlen die geeigneten Lehrer:innen, Musik wird meist gar nicht oder fachfremd unterrichtet. Nach der letzten großen Pandemie in Europa folgten die goldenen Zwanziger Jahre: Nun wünschen wir uns die Zwanziger des 21. Jahrhunderts genauso strahlend.

Andreas Richter

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