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Fahrräder, Autos, Fußgänger: Wer soll künftig Vorfahrt haben?

© David Weyand/imago

75 Visionen für Berlin – Folge 35: „Es gibt keinen Grund, sich über die Verteilung des Verkehrsraums zu streiten“

Unser Gastautor und ADAC-Vorstand Volker Krane hat die Vision, dass es mit gegenseitigem Respekt besser klappt im Berliner Verkehr. Wie kann das aussehen?

Gastautor Volker Krane ist Verkehrsvorstand beim Allgemeinen Deutscher Automobil Club (ADAC) in Berlin und Brandenburg. Der Beitrag ist Teil unserer Serie „75 Visionen für Berlin“.

Stellen Sie sich vor: Sie wachen morgens auf und sind Mitglied des „Team Berlin“. Alle Mitglieder dieses Teams wollen sicher, nachhaltig, kostengünstig und bedarfsgerecht ans Ziel – und das mit Auto, Fahrrad, U- oder S-Bahn oder mit gleich mehreren Verkehrsmitteln. Vor allem aber ohne Streit, wer es denn am besten, schnellsten, sichersten oder klimaschonendsten macht.

Und, ziemlich praktisch: die Berliner Traffic-App zeigt ihnen gleich an, wie ausgelastet Bahn, Bus und Straße zu welcher Uhrzeit an welchem Tag sind. Sie können sich also ganz entspannt und intermodal auf den Weg machen.

Es gibt auch tatsächlich keinen Grund, sich ständig über die Verteilung des Verkehrsraums zu streiten: Fahrradfahrer gegen Autofahrer und zusammen gegen die Fußgänger, nur um auf dem Nebengleis noch eben dem öffentlichen Nahverkehr eine zu verpassen, weil er unpünktlich und neuerdings sogar unhygienisch sei.

In diesem Gastbeitrag geht es nicht um Flächenkonkurrenz, Autofetischisten und Kampfradler. Es geht nur um das gemeinsame Ziel, Mobilität zum allseitigen Nutzen zu gestalten – für alle der rund sechs Millionen Menschen in der Metropolregion Berlin-Brandenburg.

Volker Krane ist Verkehrsvorstand des ADAC in Berlin-Brandenburg.
Volker Krane ist Verkehrsvorstand des ADAC in Berlin-Brandenburg.

© Die Hoffotografen

Selbstverständlich wollen (wir) alle mobil sein. Egal ob Arbeitsplatz, Sportverein, Kultur, Café oder die brandenburgische Seenplatte – was wäre all das Wert, wenn es nicht erreicht und besucht werden kann?

Wie freudlos und unbefriedigend ein heruntergeregeltes öffentliches Leben ist, zeigt das Coronavirus. Manches wird erst gewürdigt, wenn man es verloren hat.

In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.
In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.

© Illustration: Felix Möller für Tagesspiegel

Und unsere Bewegungsfreiheit vermissen wir im 15-Kilometer-Radius sehr. Erstaunlich auch, wie schnell sich Freiheit durch Eingriffe von höherer Gewalt beseitigen lässt.

Es ist immer gut, auf Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit zu achten; und darum soll es hier gehen. Denn, die Rückkehr normaler Verhältnisse zurückwünschend, wird auch die Verkehrslage wieder angespannter werden – und zwar über alle Verkehrsarten.

[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]

Aber ist das ein Grund, sich ständig über die Mobilitätsbedürfnisse des jeweils anderen zu beschweren? Müssen wir wirklich zwanghaft in eine Art archaischen Verteilungskampf zurückfallen, nur weil andere ebenso Gebrauch von ihrem Lebensraum machen wollen wie wir selbst – nur eben gerade in diesem Moment anders? An jenem Morgen, an dem Sie aufgestanden sind und Mitglied des „Team Berlin“ wurden, haben Sie einfach auf das Vorhandene zurückgegriffen, sich digital die idealen Verkehrsmittel für Ihren heutigen Weg per App zusammengestellt und sich mit einem Lächeln auf’s Fahrrad gesetzt, ins Auto gestiegen oder sind zu Fuß losmarschiert.

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Vielleicht haben Sie sogar einem entspannten Busfahrer ihre Monatskarte vorgezeigt. Egal wie, Sie haben das entschieden, individuell und verantwortungsbewusst.

Und der Weg ist sogar schön: Auf der getrennten Fahrradstraße haben Sie nämlich komplett ihre Ruhe. Und dann haben Sie tatsächlich noch einen „Oldtimer“ gesehen: Das große SUV, das auf der Kantstraße zum gefühlt achten Mal versucht, in eine Parklücke einzuparken, die nur für einen Smart reicht.

Jeder soll sich fortbewegen können in der Stadt, wie es ihm oder ihr am besten beliebt.
Jeder soll sich fortbewegen können in der Stadt, wie es ihm oder ihr am besten beliebt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Im Vorbeifahren sehen Sie, der Fahrer des SUV hat die Hand gehoben wie zur Entschuldigung, und Sie lächeln zurück. Einparken will eben gelernt sein, auch wenn man längst per App seinen Parkplatz überall in der Stadt stundenweise reservieren kann.

Sie kommen jedenfalls entspannt sicher und bestens gelaunt an den Arbeitsplatz. Der Tag kann beginnen, Sie hatten Spaß im Team Berlin.

Mobiler Fortschritt beginnt damit, die eigenen Gedanken zu bewegen

Zugegeben, mit dieser Vision sollte man frei nach dem Sprichwort vielleicht zum Arzt gehen, so wenig hat sie mit der derzeitigen Realität zu tun. In dieser Realität wird sich nämlich trefflich aufgeregt, falls irgendwo eine Ampel falsch leuchtet oder ein Fahrradstreifen zu viel aufgemalt wurde; schafft Berlin es nicht, seine Park- & Ride-Plätze auszubauen oder gemeinsam mit Brandenburg ausreichend Plätze zu schaffen und darüber auch in moderner, digitaler Weise zu informieren; wird die Kremmener Bahn nicht aktiviert und es gilt schon als Erfolg, dass sie jetzt im Verkehrsplan „i 2030“ des VBB als Projekt enthalten ist – und so weiter, und so weiter.

Mir geht es vielmehr um ein neues Selbstverständnis, um Haltung, um Respekt für die Mitmenschen. Und mir geht es um einen (oft vergessenen) Anspruch an uns selbst: in Berlin beispielhaft zu sein, fortschrittlich, smart und cool – mit einem Lächeln. Ich weiß, dass die ideal gestaltete Großstadt eine Vision bleiben wird – stetig weiterverfolgt, aber nie perfekt.

Mobiler Fortschritt benötigt immer den Willen, die eigenen Gedanken zu bewegen, Veränderungen zuzulassen, mit Unzulänglichkeiten umzugehen, Lösungen zu finden – und Kompromisse einzugehen. Lösungen dürfen individuell sein, weil niemand besser als wir selbst weiß, wie wir unser Leben am besten organisieren.

[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Weil dem Staat die Daseinsvorsorge obliegt, sind unterschiedliche Interessenslagen zu berücksichtigen und transparent abzubilden – aber nicht befehlend und mit alleinigem Wahrheitsanspruch.

Der Staat ist Dienstleister:in und nicht Erzieher:in.

Letztlich ist die kreative Problemlösungskompetenz jedes und jeder Einzelnen der wichtigste Faktor. Wenn wir Intelligenz anwenden, uns gegenseitig respektieren, dann klappt es besser, als wenn wir den Stinkefinger zeigen und vor Wut auf die Kühlerhaube hauen. Also: Team Berlin, alle zusammen mit einem Ziel: sicher und verantwortungsvoll – mit Spaß und einem Lächeln.

Volker Krane

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