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Björn Böhning (42 Jahre, SPD) war mehrere Jahre lang Chef der Senatskanzlei für die Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und Michael Müller (ebenfalls SPD). Seit 2018 dient er als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

© imago/APP-Photo

75 Visionen für Berlin – Folge 3: „Berlin braucht dringend ein neues Modell der Wertschöpfung“

Die Coronakrise bedeutet eine Zäsur für die Stadt – aber sie bietet auch Chancen. Politik und Wirtschaft müssen sich neu aufstellen, schreibt unser Gastautor.

Es ist noch gar nicht lang her, da warb Berlin mit der Kampagne: „The place to be“. Diese fügte sich ein in ein weltweit vorhandenes Berlin-Gefühl. Die Stadt war der neue Star am Metropolenhimmel. Sie zog Kreative, Künstler und Start-Uper aus der ganzen Welt an. Für Aussteiger und Umsteiger, Touristen oder Digitalnomaden war die Stadt ein Hotspot für die Verwirklichung von Lebensträumen und Unternehmensinnovationen.

Dieses Gefühl lockte aber auch Millionen von Urlaubern und tausende Menschen, die zumindest einen Lebensabschnitt hier verbringen wollten. Die Stadt lebte von ihrer Ausstrahlung als Stadt der Freiheit. Dies war die Grundlage eines kontinuierlichen und starken Wachstums der Stadt seit 2005 – demografisch und sozial, aber auch ökonomisch und finanziell. Auf dem Weg in eine Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole erlangte Berlin ein neues sozioökonomisches Selbstbewusstsein und hatte die sehr wohl begründete Perspektive auf einen langfristigen selbsttragenden Aufschwung.

Doch die Party ist vorbei. Soziale Distanz und wirtschaftliche Krise bestimmen das Bild. Folgerichtig setzt die neue Berlin Kampagne eher auf den Zusammenhalt in der Stadt („Wir sind ein Berlin“), denn wirtschaftliche Performance.

Auf den ersten Blick lässt sich hoffen, dass Berlin sich genauso wie die bundesdeutsche Wirtschaft bis 2022 erholen wird. Aber ein differenzierterer Blick liefert andere Befunde: Während sich Industrie in Berlin erstaunlich gut halten konnte und nur geringfügige Rückgänge der Produktion aufzuweisen hat, trifft es andere Bereiche besonders stark. So hat die Coronakrise das bisherige Wirtschaftsmodell Berlins ins Mark getroffen: Wo kein Club, da keine Gäste. Wo keine Messe, da keine (gut zahlenden) Besucher. Wo keine Touristen und Gäste, da keine Hotels und Restaurants.

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Die Liste ließe sich fortsetzen. Nüchterne Zahlen unterstreichen dies: Das Gastgewerbe mit seinem überdurchschnittlich hohen Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung Berlins könnte in diesem Jahr 30 Prozent seiner Wertschöpfung verlieren. Seit Beginn der Pandemie liegt Berlin beim Anstieg der Arbeitslosigkeit in der absoluten Spitzengruppe – im Monat August wies die Stadt den höchsten Corona-Effekt aller Bundesländer (plus 2,8 Prozent Arbeitslosenquote!) aus. Die Zahl der Pleiten ist auf Rekordhöhe, die Zahl der Gründungen ging in den ersten fünf Monaten des Jahres um 19 Prozent zurück.

Ein der Eingangstür eines kleinen Ladengeschäfts in Berlin hängen Schilder mit der Aufschrift "Closed" und "no business as usual". Aber immerhin auch: "...but hope to see you soon! Take care".
Ein der Eingangstür eines kleinen Ladengeschäfts in Berlin hängen Schilder mit der Aufschrift "Closed" und "no business as usual". Aber immerhin auch: "...but hope to see you soon! Take care".

© Britta Pedersen/dpa

Auch die Volkswirte der Investitionsbank Berlin (IBB) bewerten die Aussichten Berlins als schwierig: War Berlin vor der Krise noch Spitzenreiter des Wachstums in Deutschland, ist es nun Schlusslicht. Der Einbruch der Wirtschaft wird aufs Jahr gerechnet um knapp ein Viertel höher ausfallen als im Bundesdurchschnitt und einzelne Bereiche der Berliner Wirtschaft, wie (stationärer) Einzelhandel, Veranstaltungswirtschaft und Touristik, könnten nie wieder das Vorkrisenniveau erreichen.

Ein Umstand wird die Krise noch verschärfen: Homeoffice und Remote-Work zählen zu den langfristigen absoluten Gewinnern der Krise. 20 bis 25 Prozent arbeiten mindestens teilweise im Homeoffice. Viele Analysten sehen einen starken Trend der De-Urbanisierung durch die neue Arbeitswelt auf uns zukommen. Mobiles Arbeiten, fehlende Neubauten und die alltäglich nervende Pendlerwelle werden das Berliner Umland zum Krisengewinner machen – und die Stadt ist gezwungen sich umzustellen.

Berlin muss auf Stärken aufsetzen

Berlin braucht dringend ein neues Modell der Wertschöpfung und dafür eine wirtschaftspolitische Trendwende der Stadtpolitik, die auf Stärken aufsetzt und diese Stärken stärkt.

Dazu gehört zuvorderst eine neue Technologiepolitik. Berlin ist und war sehr erfolgreich in der Etablierung einer neuen Gründerkultur. Die Krise offenbart aber auch hier die Schwächen: Eine sehr starke Orientierung der Start-ups auf Endkunden (statt auf Firmenkunden) bei gleichzeitig geringer Tiefe technologischer Wertschöpfung. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss jetzt alles daransetzen, digitale Innovationen auch jenseits von Plattformunternehmen in Zukunftsbereichen wie Energie, Mobilität oder Infrastruktur zu fördern. Dazu kann die erfolgreiche Start-up-Umwelt in Berlin genutzt werden und enger mit den Industrieunternehmen, besonders in Westdeutschland, zusammengeführt werden, sodass mehr Innovationen entstehen, die entlang der Wertschöpfungsketten in der Industrie und im produzierenden Gewerbe eingesetzt werden können.

Das Land Berlin wird dabei nicht auf private Investoren mit dem Wunsch schneller Exit-Strategien setzen können, sondern sollte einen (privat-) öffentlichen Beteiligungsfonds aufbauen. Eine solche Weiterentwicklung des „IBB Ventures“-Fonds muss nachhaltig ausgestaltet und auf technologische Innovationen beschränkt und mit mindestens fünf Milliarden Euro ausgestattet werden. Die derzeit günstige Zinssituation sollte dringend für den Aufbau dieses „Berlin Trusts“ genutzt werden.

Wachstum für Wissenschaft und Forschung schaffen

Hinzukommen muss eine intelligente, wachstumsorientierte Wissenschafts- und Forschungspolitik. Da Berlins Wissenschafts- und Forschungslandschaft sehr stark öffentlich getrieben ist, sind bisher die möglichen Übertragungseffekte dieser starken und guten Szene zu wenig zur Geltung gekommen. Hinzukommt, dass private Forschungsinvestitionen häufig nicht aus der Region kommen und Innovationen dann anderswo umgesetzt werden.

Berlins Stein der Weisen? Der 1936 errichtete Trudelwindkanal und im Hintergrund der schallgedämpfte Motorenprüfstand -zwei technische Denkmäler im Aerodynamischen Park in Berlin-Adlershof. Dieser Standort spielt eine zentrale Rolle in der "Vision" von Björn Böhning.
Berlins Stein der Weisen? Der 1936 errichtete Trudelwindkanal und im Hintergrund der schallgedämpfte Motorenprüfstand -zwei technische Denkmäler im Aerodynamischen Park in Berlin-Adlershof. Dieser Standort spielt eine zentrale Rolle in der "Vision" von Björn Böhning.

© imago images/POP-EYE

Es müssen also echte Anreize für eine stärkere Wachstumsorientierung möglichst anwendungsorientierter Forschung und Wissenschaft gesetzt werden. Beispielsweise könnte man überlegen, dass das Land jeden Euro verdoppelt, der als Forschungsgeld in innovative Technologie privat investiert wird – und deren Ergebnisse in Berlin umgesetzt werden. Damit hätte man einen starken wirtschaftspolitischen Hebeleffekt und würde gründungsmutige Wissenschaftler und Forscherinnen für Berlin gewinnen. Und mit den Erfolgen in Adlershof, den Überlegungen zur Nachnutzung von Tegel und Siemensstadt gibt es mehrere Ansatzpunkte, um diese Politik auch in der Stadt räumlich zu verankern.

Potenzial der öffentlichen Betriebe heben

Und drittens braucht Berlin eine neue Betriebe-Politik. Das wirtschaftliche Potenzial öffentlicher Betriebe in Berlin wird nach wie vor unterschätzt. Als Unternehmen der öffentlichen Daseinsvorsorge halten sie nicht nur elementare Lebensadern der Stadt funktionsfähig, sondern fördern auch technologische Investitionen im Sinne einer fortschrittlichen Nachfragepolitik. Sie können zu einer wachstumsorientierten Strukturwandelstrategie der Stadt beitragen, die Berlin moderner aufstellt, weltmarktfähige Produkte entwickelt sowie erprobt und damit dem ökologischen und sozialen Umbau der Stadt Vorschub leisten.

Dafür müssen die öffentlichen Betriebe allerdings auch diese strategische Aufgabe erhalten und von der Stadtpolitik unterstützt werden. Das politische Gezerre um den „Berlkönig“, einen innovativen Mobilitätsdienstleister in direkter Konkurrenz zum amerikanischen Plattformkapitalisten Uber, wirft leider ein schlechtes Bild auf den politischen Willen der Verantwortlichen.

[Björn Böhning (42, SPD) war mehr als sechs Jahre lang bis März 2018 Chef der Berliner Senatskanzlei und ist seither Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Lesen Sie hier auch die anderen Beiträge der Serie 75 Visionen für Berlin.]

Abschließend braucht Berlin im 100. Jahr der Gründung Groß-Berlins eine neue ökonomische Umlandstrategie. Das Wachstum Berlins wird zunehmend ein Wachstum der gesamten Metropolregion Berlin-Brandenburg beziehungsweise des Berliner Umlandes werden. Die dezentralisierte Arbeitsgesellschaft lässt aus Berlin und Brandenburg einen Wirtschaftsraum und einen vernetzten Arbeitsmarkt entstehen. Darum bedarf es einer länderübergreifenden Strukturpolitik mit gemeinsamen Investitionsfeldern.

Treiber dieser Planung sollte die Idee eines gemeinsamen Investitionskorridors, der in der Lausitz beginnt und die dortigen Transformationsüberlegungen aufgreift, diesen über den neuen automobilen Innovationsstandort am Flughafen BER und den Technologiepark Adlershof bis hin zu den Standorten von Wissenschaft und Unternehmensgründungen in Berlin reicht. Gelingt hier ein integrierter Korridor, der Industrie, Wissenschaft, Start-ups und unternehmensnahe Dienstleistungen zusammenbringt, dann können Berlin und Brandenburg gemeinsam davon profitieren.

Berlin stehen harte Zeiten bevor. Es ist jetzt an der Zeit nicht nur kurzfristige Krisenbewältigung im Auge zu haben, sondern mutig die wirtschaftspolitischen Weichen zu stellen, um gestärkt aus der Coronakrise hervorzugehen.

Björn Böhning

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