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Keine Sackgasse. Auch diese Werbung für eine Länderfusion konnte die Brandenburger 1996 nicht überzeugen.

© Peer Grimm/dpa

75 Visionen für Berlin – Folge 13: So wird die Hauptstadtregion zu einem Wachstumspol für Europa

Berlin und Brandenburg müssen mit ihren Vorzügen wuchern. Vier Bausteine können „Greater Berlin“ zu einer der lebenswertesten Regionen Europas machen.

Mitten im dunklen Corona-Jahr 2020 kann man es sich kaum vorstellen. Aber Brandenburg und Berlin haben nach wie vor alle Trümpfe in der Hand, um am Ende der Zwanziger Jahre zu einer der lebenswertesten Regionen Europas zu werden. Nötig sind dafür Mut zum Neuen, eine kluge Strategie und weichenstellende Entscheidungen.

Die besondere Geschichte der Region, die Erfahrungen mit alten Wachstumsprozessen und teilungsbedingtem Stillstand, mit Durchhaltewillen und Lebenstüchtigkeit sind zugleich Zukunftskapital. Berlin und Brandenburg haben viel erlebt – und können gerade deshalb viel.

Denn schon in den 2010er Jahren haben sich sowohl Berlin als auch Brandenburg berappelt. Die finanzielle Konsolidierung in Berlin hatte eine Lockerung der restriktiven Haushaltspolitik möglich gemacht – und mit der beginnenden Digitalisierung wurde die Hauptstadtregion mit ihren offenen und kostengünstigen Lebensumständen zum Anziehungspunkt für neue, kreative Digitalbranchen.

Was in anderen Teilen Deutschlands selten an einem Ort zusammentrifft, ist in Brandenburg und Berlin reichlich vorhanden: Wissenschaft und Kultur, alte und neue Wirtschaftszweige, junges Publikum, Internationalität, zugleich lebenswerte Umwelt und viel unzerstörte Landschaft. Mithin: optimales Entwicklungspotenzial in einer Zeit, in der ein radikaler Umbau der alten, ressourcenfressenden Industriegesellschaft immer stärker auf die Tagesordnung drängt.

Vier Bausteine können dazu beitragen, dass Berlin und Brandenburg zu einem neuen Wachstumspol in Deutschland und Europa heranwachsen.

Erstens, die Verknüpfung von Leben, Lernen und Arbeiten. Bisher war Digitalisierung vor allem ein Metropolenthema. Doch inzwischen macht sie es möglich, dass sich Arbeiten, Wohnen und Leben immer mehr verschränken. Das alte Konzept des Berliner Siedlungssterns muss dazu an die veränderten Erfordernisse der neuen Zeit angepasst werden.

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Der neue Ansatz muss Wissens-, Mobilitäts- und Wohnpolitik strategisch miteinander verknüpfen. Auf diese Weise ließ sich der alte – und oft schroffe – Gegensatz von Berlin mit seinem unmittelbaren Umland einerseits und dem ländlichen Raum andererseits überwinden. Wir brauchen ein Denken in Korridoren, die in die Metropole Berlin hinein- oder aus ihr herausführen.

Eine wichtige Grundlage für diese nachhaltige Zukunftstauglichkeit ist der Ausbau eines eng verflochtenen Mobilitätssystems. Regionalexpresszüge müssen auf allen Routen alle 20 bis 30 Minuten bis in die Mitte Berlins, alle Regionen Brandenburgs brauchen einen direkten Zugang zum neuen Flughafen, zahlreiche S-Bahn-Strecken brauchen weit nach Brandenburg hinein eine Verlängerung.

Der Sozialdemokrat Thomas Kralinski.
Thomas Kralinski

© promo

Richard Meng ist früherer Sprecher des Berliner Senats.
Richard Meng

© DOG Berlin

[Die Autoren: Thomas Kralinski (oben) ist ehemaliger Chef der Brandenburger Staatskanzlei und Vorstandsmitglied des Thinktanks „Das Progressive Zentrum“. Richard Meng (unten) war unter Klaus Wowereit Sprecher des Berliner Senats und langjähriger Journalist und Publizist. Beide engagieren sich in der „Stiftung Zukunft Berlin“.]

An den Brandenburger Bahnhöfen muss es weiter mit autonom und elektrisch fahrenden Bussen und Autos gehen. Mit einer solchen engen infrastrukturellen Vernetzung können sich Innovationskorridore und Zuzugsorte entlang der Bahntrassen von Berlin nach Brandenburg und darüber hinaus bis Hamburg, Stettin, Leipzig, Rostock, Dresden und Magdeburg ziehen.

Zweitens, der Innovationsmotor Ostdeutschland. Berlin muss nach und nach seine weitere Umgebung zurückgewinnen. Mit vier Millionen Einwohnern ist die Stadt ganz automatisch ein Magnet für die umliegenden Regionen – und zwar weit über Brandenburg hinaus.

Die besondere Wirtschaftsstruktur Ostdeutschlands mit der Dominanz kleiner und mittlerer Unternehmen ist besonders auf den Austausch mit Wissenschaft, Forschung und Gründerzentren, auf eine Kultur der Innovation und Kooperation angewiesen. Ostdeutschland braucht eine neue Wachstumsstrategie, die darauf ausgerichtet ist, sich auf zentralen Zukunftsgebieten – insbesondere hinsichtlich klimaneutralen Lebens und Wirtschaftens – einen Vorsprung gegenüber anderen Regionen zu erarbeiten.

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Die Eröffnung der Tesla-Fabrik in Grünheide muss zum Start für eine europaweit einzigartige neue Forschungs- und Industrielandschaft im Bereich von Elektromobilität, Erneuerbaren Energien, Batterieentwicklung und autonomer Mobilität werden. Dazu braucht es einen großen Verbund von Wirtschaft, Forschung und Entwicklung, der Berlin, die Lausitz aber auch viele weitere Unternehmen und Hochschulen in Ostdeutschland und Polen umfasst.

Es braucht ein neues Europäisches Zentrum für Künstliche Intelligenz in Berlin mit mehr als 100 neuen Professuren – darauf angelegt, Prozesse von Unternehmen und Verwaltungen zu modernisieren, aber auch mit kritischem Zugang, Technikfolgenforschung, Zukunftsdiskurs und Betrachtung von sozialen und ökologischen Wirkungen. So kann ökonomischer und gesellschaftlicher „Vorsprung“ für eine ganze Region entstehen.

Drittens, die europäische Vernetzung. Berlin liegt im Schnittpunkt zweier neuer europäischer Wachstumsachsen. Eine führt vom Westen Europas in den Osten, von Paris bis nach Warschau, ins Baltikum und nach Moskau. Die andere erstreckt sich von Norden, von Hamburg und Kopenhagen, in das östliche Mitteleuropa nach Prag, Wien und Bratislava, nach Breslau, Oberschlesien und Krakau. Neben der politischen und kulturellen Bedeutung gewinnt die Metropolregion genau das, was ihr lange fehlte: ökonomische Substanz, insbesondere hinsichtlich der neuen, digitalgetriebenen Industrien.

Und schließlich viertens, das Denken in Win-Win-Situationen. Mit der Zeit werden sich auch die Emotionen ändern. Die Menschen in Berlin müssen den Blick häufiger nach außen richten, was sie sich zeitweise schon regelrecht abgewöhnt hatten: und sehen ein spannendes, lebenswertes Brandenburg. Während dort die Bedeutung des Zentrums Berlin auch für die Brandenburger Entwicklung niemand mehr kleinreden wird. Das neue Interesse aneinander hat nichts mit der Auflösung von lokalen oder regionalen Zugehörigkeitsgefühlen zu tun – im Gegenteil. Lokal- oder Regionalstolz und eine arbeitsteilige, mobile Gesellschaft sind kein Gegensatz mehr.

In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.
In der neuen Serie "75 Visionen für Berlin" feiert der Tagesspiegel sein Jubiläum mit der Veröffentlichung von 75 kleinen und großen Gastbeiträgen.

© Illustration: Felix Möller für Tagesspiegel

[Vor 75 Jahren ist der Tagesspiegel als erste Berliner Zeitung nach dem Krieg gegründet worden. Wir bitten 75 engagierte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Sport und Zivilgesellschaft, uns ihre Ideen für die Zukunft dieser Stadt zu schildern. Alle bisher erschienenen Beiträge dieser Serie lesen Sie hier.]

Ein neues Berlin-Brandenburg-Forum sollte dabei die politischen und gesellschaftlichen Debatten in beiden Ländern begleiten. Landes- und Kommunalpolitiker, Gewerkschaften und Unternehmer, Religionsgemeinschaften, Kultur und Wissenschaft sowie die Zivilgesellschaft können sich so regelmäßig über Ideen und Lösungsansätze austauschen, Projekte auf den Weg bringen. Ein solches gemeinsames Forum kann so erfolgreich verhindern, was anderswo immer wieder Fortschritt blockiert: Gesprächslosigkeit und Kirchturmdenken. Sie stehen für Innovationskraft durch Offenheit.

Eine internationale Kampagne lockt Spitzenkräfte in die ganze Region

Ganz konkret kann man mit einer internationalen Kampagne starten und so vor allem Kreative, Unternehmer und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler umwerben, um sie nach „Greater Berlin“ zu locken. „Greater“ bedeutet im Zusammenhang mit einem Städtenamen zunächst einfach nur „Stadt mit Umland“, lässt sich auch mit „großartig“ übersetzen.

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Der Vorteil: Berlin ist schon bekannt und beliebt. Dass sich aber 60 oder 90 Bahnminuten vom Stadtzentrum entfernt Lebensbedingungen finden, die geradezu ideal sind für Familien – das weiß man in London und anderen Metropolen nicht. Eine gemeinsame Zuzugsagentur kann den Neu-Berlin-Brandenburgern bei der Suche nach Arbeit, Wohnung, Kita oder Hochschule helfen.

Digitalisierung macht das Beste aus Stadt und Land zusammen

Der alte Gegensatz zwischen Stadt- und Landleben lässt sich mit der Digitalisierung auf neue, attraktive Weise überwinden. Das Zentrale dabei: Brandenburg und Berlin kann in den kommenden zwanziger Jahren mit gemeinsamen Konzepten ein neuer qualitativer Entwicklungsschub gelingen, der die Region insgesamt zum Magneten gemacht hat – was weder Berlin noch Brandenburg für sich alleine hätten erreichen können.

Die Chance für unsere gesamte Region ist da. Es kommt es darauf an, gemeinsam neu zu denken und zu handeln. Aufbruchstimmung und neuer Pioniergeist sind an vielen Orten mit den Händen zu greifen. Klug zusammengeführt, lassen sich in Brandenburg und Berlin besonders viele Win-Win-Situationen herstellen: neue Wachstumschancen für die Großstadt und für ländliche Regionen, die bislang ihren Niedergang befürchten. So kann eine ganze Region das Gefühl bekommen, dass zusammen wachsen von zusammenwachsen kommt. Und so können auch die Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts wieder „goldene“ werden.

Thomas Kralinski, Richard Meng

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