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Für seine Verdienste um Berlin wurde Günther Matthes 1991 die Ernst-Reuter-Plakette verliehen.

© Thilo Rückeis

75 Jahre Tagesspiegel: Günter Matthes – ein kritischer Kopf

Seine Kolumne „Am Rande bemerkt“ war legendär und Pflichtlektüre in Berlin. Als Lokalchef und Redaktionsleiter war Günter Matthes prägend.

Günter Matthes (1920-1995) hat das Wort „Shitstorm“ nie kennengelernt, und er hätte es sicher auch nicht gemocht. Dennoch hat er in seinem Leben als Lokalchef und Redaktionsleiter ein paar Mal die Empörung der halben Stadt West-Berlin derart auf sich gezogen, dass die ganze Stadt davon geredet hat – er war in seinen prononcierten Meinungen von politischen Lagern ebenso unabhängig wie von der eigenen Anzeigenabteilung.

Zwei Fälle haben dies besonders deutlich gemacht. Der bekannteste betraf das Ansinnen des rot-grünen Senats 1989, auf der bis dahin schrankenlos befahrbaren Avus Tempo 100 durchzusetzen. Matthes, der selbst einen durchaus flotten Fahrstil pflegte, sprach sich dafür aus und wurde prompt zum Lieblingsfeind des damals noch äußerst betonköpfigen ADAC, der sofort alle Kontakte mobilisierte, mit der Folge, dass einige große Kfz-Unternehmer und ein - später untergegangenes  - großes Möbelhaus einen Anzeigenboykott ausriefen, der durchaus massive wirtschaftliche Folgen hatte.

Doch es gab auch eine Gegenmobilisierung, die Matthes nutzte: Eine Weile lang veröffentlichte er süffisant die Zahl der Austritte aus dem ADAC, die mit dessen Haltung zu Tempo 100 und dem Kampf gegen den Tagesspiegel begründet waren. Der Senat blieb hart, die Zeitung auch. Heute wäre freie Fahrt auf der Avus undenkbar.

Der zweite Fall betraf die Politik unmittelbar. Der Tagesspiegel galt, als man Zeitungen noch eindeutige Etiketten aufklebte, als „liberal-konservativ“, was ungefähr auch auf die Haltung eines einzelnen Lokalchefs passte; ausgesprochen konservativ war das Blatt vor allem in der kenntnisreichen und standhaften Bewahrung des alliierten Status der Stadt.

Matthes sprach sich für Richard von Weizsäcker aus

Ein CDU-Blatt war es aber nie, und deshalb sorgte Matthes für enorme Leserproteste, als er sich 1981 eindeutig für die Wahl Richard von Weizsäckers zum Regierenden Bürgermeister aussprach, weil er die SPD als verschlissen betrachtete. Weizsäcker war zwar als Person unumstritten, aber es war klar, dass er auch die CDU-Rechte um Heinrich Lummer einbinden müsste, was wenig später in der Räumung besetzter Häuser eskalierte. Die Zahl empörter Leserbriefe und politisch begründeter Abo-Kündigungen erreichte ein bis dahin unbekanntes Ausmaß.

Die enorme Bedeutung von Günter Matthes für die Stadt hatte mehrere Gründe. Der banalste: Er war enorm lange dabei. Seit 1952 arbeitete der gebürtige Leipziger beim Tagesspiegel, wurde 1954 Lokalchef und nahm gleichzeitig seine tägliche Kolumne „Am Rande bemerkt“ auf. Darin standen  keineswegs immer oder auch nur regelmäßig politische Stellungnahmen, sondern zum großen Teil überwiegend Glossen, kleine Stadtbeobachtungen, Reflektionen zum Alltag, stilistisch karg, manchmal versponnen, nie albern.

Erst, als er 1984 in die Redaktionsleitung aufstieg, die bis dahin faktisch in den Händen des Verlegers Franz Karl Maier gelegen hatte, gab er die Kolumne unter dem Rubrum „Von Tag zu Tag“ auch für andere Autoren frei. Seine Texte, auch zahlreiche Leitartikel auf Seite 1, artikulierten unbeirrbar den Selbstbehauptungswillen der ummauerten Stadt, ließen aber nie vordergründig parteipolitische Präferenzen erkennen – ihnen lag eine immer kritische Haltung gegenüber der Macht zugrunde.

Matthes hatte keine Duzfreunde in der Politik

Das war im Berlin der Mauerzeit mehr als nur eine professionelle Selbstverständlichkeit. Denn der Berliner Zeitungsmarkt kannte neben dem randständigen „Spandauer Volksblatt“ sonst nur die Springer-Zeitungen mit ihrer durchweg staatsfrommen, alle Lockerungen ablehnenden Haltung. Und auch beim SFB dominierten seinerzeit Kommentatoren mit ähnlicher Schlagseite wie Matthias Walden.

So blieb es dem Tagesspiegel und damit oft eben auch Matthes vorbehalten, wichtige politische Ereignisse wie die Studentenunruhen und die Hausbesetzerfrage differenziert zu betrachten.

Doch auch hier war es immer die Stimme eines unabhängigen Journalisten: Er hatte keine Duzfreunde unter den Mächtigen, wahrte stets kühle Distanz, hasste große Veranstaltungen, scheute das Fernsehen, lehnte Ehrenämter ab  - und hat sicher immer gründlich überlegt, ob er Auszeichnungen wie die beiden Bundesverdienstkreuze und die Ernst-Reuter-Plakette überhaupt annehmen soll.

Man schmälert Matthes´ Verdienste keineswegs, wenn man den Zeitrahmen seiner Tätigkeit bedenkt. Denn heute, angesichts einer allgegenwärtigen Kakophonie von Meinungen und Talk-Show-Duellen, dringen Zeitungskommentare längst nicht mehr in diesem Maß durch – es wäre unmöglich, heute in Berlin einen ähnlichen Status zu erreichen. Das Internet hatte 1995, als Matthes starb, für die journalistische Arbeit noch keine Bedeutung.

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