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Früher Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge und (Spät-)Aussiedler, heute Übergangswohnheim für Geflüchtete, unter anderem aus Syrien: Ein Teil des Gebäudekomplexes der Marienfelder Allee 66-80.

© Kitty Kleist-Heinrich

55 Jahre nach dem Mauerbau: Teils Flüchtlingsunterkunft, teils Museum

Das frühere Notaufnahmelager Marienfelde beherbergt heute Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan. Inwiefern ist 55 Jahre nach Bau der Berliner Mauer das Vergangene für sie gegenwärtig?

Eine große, wartende Menschenmenge steht vor einem Gebäude mit langen, rechteckigen  Fensternischen. Auf der linken Gebäudehälfte steht in großen weißen Lettern „Notaufnahmelager“. Der rechte Teil des Gebäudes ist mehrstöckig, an einem Fenster steht eine weißgekleidete Frau, möglicherweise eine Krankenschwester, und blickt auf die wartenden, skeptisch blickenden Menschen vor dem Haus. Im Vordergrund beugt sich eine Frau über einen Kinderwagen, hinter ihr lugt ein Koffer aus der wartenden Menge hervor. 

Es ist eine Szene, die sich innerhalb der letzten zwei Jahre abgespielt haben könnte – das Gebäude dient nun als Übergangswohnheim für Geflüchtete und Asylbewerber. Tatsächlich handelt es sich aber bei dem Bild um eine Aufnahme vom 14. August 1961. Metergroß prangt sie an der Außenfassade des ehemaligen Notaufnahmelagers für Flüchtlinge aus der ehemaligen DDR und (Spät-)Aussiedler in der Marienfelder Allee. Einen Tag, nachdem die DDR begonnen hat, die Sektorengrenzen zwischen West- und Ost-Berlin in Zement zu gießen, ist die Mauer teilweise noch durchlässig, zahlreiche Menschen ergreifen panisch die letzte Gelegenheit zur Flucht in den Westen.

1,35 Millionen Geflüchtete

Das Notaufnahmelager Marienfelde ist zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren die zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Insgesamt sind es bis zur Wiedervereinigung 1,35 Millionen Menschen, die über das Lager in den Westen gelangen. Dem mit dem Mauerbau versiegenden Flüchtlingsstrom folgen ab 1964 Aussiedler, also Menschen mit deutschen Wurzeln aus Osteuropa und den Ländern der (ehemaligen) Sowjetunion, die vom Bund dem Land Berlin zugeteilt werden.

2010 wird das Aufnahmelager in der Marienfelder Allee aufgrund der geringen Zuwanderungszahlen geschlossen – um wenige Monate später wieder eröffnet zu werden. Seitdem leben hier über 700 Flüchtlinge und Asylbewerber, vor allem aus Syrien, Afghanistan und Tschetschenien. Der vorgesehene sechs- bis zwölfmonatige Aufenthalt im Übergangswohnheim dehnt sich für sie oft über Jahre aus, weil sie keine Wohnung finden. Betrieben wird die Unterkunft vom Internationalen Bund (IB) im Auftrag des Landes Berlin.

Ein Foto als Hoffnungsspender

Wissen die Geflüchteten, die hier leben, um die historische Vergangenheit ihres neuen Zuhauses? Und wird ein solches Erinnern von institutioneller Seite gefördert? Ein syrischer Flüchtling, der seit anderthalb Jahren in der Unterkunft wohnt und anonym bleiben möchte, betont den Unterschied in der Fluchtbewegung damals und heute. Nichtsdestotrotz sei es für ihn „überraschend“ gewesen, dass Flucht in Deutschland ein „altes Thema“ ist. Salman Alaa (34) schaut sich das Foto der wartenden, schwarz-weißen Menschenmenge am früheren Verwaltungsgebäude des Notaufnahmelagers häufig an. Seit vier, fünf Jahren wohnt der Iraker hier, so genau kann er es nicht sagen. Dass dies auch ein historisch bedeutsamer Ort ist, weiß er, er hat viel über die deutsche Geschichte gelesen. Das Foto gebe ihm Hoffnung, sagt er. „Diese Leute hatten wahrscheinlich ein gutes Leben“, sagt er. Darauf würden er und seine Freunde sich auch konzentrieren: eine Ausbildung machen, studieren, eine neue Karriere starten.

Wir stehen vor dem Eingang, der zu insgesamt 26 Häusern mit etwa 200 möblierten Ein- bis Dreizimmerwohnungen für die Geflüchteten und Asylbewerber führt. Er ist nur wenige Schritte vom ehemaligen Verwaltungsgebäude des Notaufnahmelagers entfernt. Hier gibt seit 2005 eine Dauerausstellung mit über 900 Exponaten Einblick in die deutsch-deutsche Fluchtbewegung, das Leben im Notaufnahmelager – und seine neue Funktion als Übergangswohnheim.

"Wie geht es jetzt weiter?"

An einer Wand im ersten Stock mit Fotos von Geflüchteten, die in Marienfelde über die Jahrzehnte gewohnt haben, befinden sich auch erst vier Jahre alte Fotos von syrischen und afghanischen Familien. In einer mit Möbeln aus den 50er Jahren originalgetreu eingerichteten Flüchtlingswohnung fragt in einem an die Wand gepinselten Zitat DDR-Flüchtling Roswitha Ebert „Wie geht es jetzt weiter?“ Eine Wand weiter wird der syrische Flüchtling Fawaz Tello zitiert: „Die Wohnung ist nur ein Dach über unserem Kopf, sie ist nur für den Übergang“. Beide haben zeitweise in der Marienfelder Allee gewohnt.

Es gebe generell eine „enge Zusammenarbeit“ mit dem Betreiber des Übergangswohnheims, sagt Judith Hilger, Sprecherin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. So werden noch bis zum 18. September in der Sonderausstellung „Bridge the Gap“ Fotografien gezeigt, die von Berliner Schülern wie auch Jugendlichen aus dem Übergangswohnheim stammen und deren jeweilige Lebenssituation thematisieren. Das Filmprojekt „Nach der Flucht. Leben im Übergangswohnheim Marienfelder Allee“ wurde 2012 mit dem Integrationspreis des Bezirks Tempelhof-Schöneberg ausgezeichnet. Doch bei aller Kooperation – im Fokus der Geflüchteten heute stehen – natürlich – ganz andere Dinge als die deutsch-deutsche Vergangenheit.

Nächstes Ziel: Eine eigene Wohnung

Im Büro von Pia Imhof-Speckmann, einer der Leiterinnen des Übergangswohnheims, sitzt Yusra Salas. Die 33-Jährige Syrerin wohnt seit 17 Monaten mit ihrer Familie in der Marienfelder Allee. Über ihren Sprachkurs habe sie viel über das Leben in Deutschland und auch die deutsche Geschichte gelernt, sagt sie. Auch die Dauerausstellung habe sie mit ihrer Familie schon besucht. Themenwechsel. Salas sucht nach einer Wohnung, nach Möglichkeit in Marienfelde.

Ihre elfjährige Tochter konnte im Zuge ihrer Flucht von Land zu Land lange keine Freundschaften schließen und hat in Marienfelde nun endlich Freunde gefunden. Generell sei die Situation für ihre Kinder nun „so gut“, sagt Salas. „Sie haben alle Rechte und sie fühlen, dass sie sicher sind“. Dass sie an einem historischen Ort wohnt, spürt Salas jeden Tag vor allem im wahrsten Sinne des Wortes: Den Bewohnern in der Unterkunft steht kein W-Lan zur Verfügung – die Gebäudeanlage hat sich seit 1953/54 nicht wirklich verändert. Ihre Bewohner und deren Geschichten schon.

Julia Dziuba

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