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Mick Jagger vorn, dahinter die Polizei.

© ullstein - dpa

50 Jahre nach Konzert in der Waldbühne: Randale bei Rolling Stones: "Polizeihunde bissen Beatjünger"

Fast 100 Verletzte, 85 Festnahmen, eine verwüstete Waldbühne: Lesen Sie hier den Tagesspiegel-Text nach dem Rolling-Stones-Konzert - ein Zeitdokument.

Am 15. September 1965, heute vor 50 Jahren, fand eines der legendärsten Konzerte in Berlin statt - das der Rolling Stones in der Waldbühne. Es gab fast 100 Verletzte, 85 Festnahmen und eine auf Jahre kaputte Waldbühne. Die „Bravo“ hatte zu dem Konzert geladen, die Stones, damals noch mit Brian Jones und Bill Wyman, waren der Haupt-Act, ihr Auftritt nur auf eine halbe Stunde terminiert. Aber bereits nach 20 Minuten war wieder Schluss.

Wir haben mal in unserem Tagesspiegel-Archiv gewühlt und den ersten Text vom Konzert gefunden - mit bemerkenswert-euphorischer Tagesspiegel-Überschrift: "Es war eine rauschende Beat-Nacht" - Tumulte, Schlägereien und Raketen bei den Rollings Stones". Ein Zeitdokument:

"Die Sensationsmacher haben gesiegt. Es war eine rauschende Beatnacht. Die 20.000 Jugendlichen in der ausverkauften Waldbühne hatten sich schon nach einer Viertelstunde in Ekstase gejohlt. Bis die Rolling Stones aufkreuzten, wurde schon so viel Krawallstimmung erzeugt, daß eine Steigerung unmöglich schien. Raketen zischten in die Luft. Im vollgepferchten Innenraum inmitten der wogenden Masse wurden Tänze um Freudenfeuer aufgeführt, die wildesten Radauer wurden von helmbewehrten Ordnern ergriffen und unter dem Wutgeheul des kochenden Halbrunds abgeschleppt.

Polizisten, die nicht mit der Abwehrschlacht vor den hundertfach bedrängten Zufahrtswegen beschäftigt waren, kamen den hoffnungslos unterliegenden Ordnern zu Hilfe. Polizeihunde bissen sich in Textilien und Fleisch durchbrechender Beatjünger fest. Von den Rängen flog alles Werfbare in den Hexenkessel, Sanitäter bahnten sich eine schmale Gasse, um die Verletzten in die Freiheit zu retten. Und so wurde es halb zehn Uhr: die Rolling Stones kamen.

Der Enthusiasmus schwappte vollends über. Die Bühne wurde im Sturm genommen und erklommen. Polizeiknüppel fuhren machtlos dazwischen. Leiber flogen hinauf zur Bühne und wieder herunter auf die Häupter des nächsten Stoßtrupps. Die erste Nummer der Rolling Stones wurde im Keim erstickt, verschüchtert räumten die Fünf das Feld. Konzentrierter Ordnermacht gelang es nach fünf lärmenden Minuten, ihnen wieder einen engen bedrängten Spielraum freizuschaufeln. Der Krawall dauerte bis zum bitteren Ende.

Krawall auch vor der Waldbühne

Auf der Passenheimer Straße an der Waldbühne mußte ein Einsatzkommando der Polizei den Gummiknüppel gegen eine große Gruppe rabiater Jugendlicher anwenden, die versuchten, eine polizeiliche Absperrkette zu durchbrechen. Die Randalierer warfen mit Steinen. Erst als die Polizei über Lautsprecher androhte, sie werde Wasserwerfer einsetzen, beruhigten sich die Jugendlichen etwas.

Französischer Wasserwerfer im Einsatz

Zum ersten Male kreischten sie auf, als die aus München kommende Maschine mit der Beat-Band „Rolling Stones" mit 20minütiger Verspätung auf dem Rollfeld des Berliner Flughafens Tegel aufsetzte — fast tausend elf- bis 15jährige Berliner Beat-Fans begrüßten ihre Idole mit Pfeifen, Kreischen und Johlen lautstark, aber diszipliniert. Die von der Polizei aufgerichteten Absperrgitter wurden nicht durchbrochen, die hundert Polizisten hatten wenig Mühe, die übermütigen Jugendlichen zu bremsen.. Ein im Hintergrund bereitstehender französischer Wasserwerfer und ein anderer der Berliner Polizei wurden nicht benötigt."

Die "Bild"-Zeitung schrieb: "Macht kein Kleinholz!"

Am Tag danach begann das große Aufräumen in der Waldbühne und die Zeit der großen Analysen. Natürlich auch im Tagesspiegel, im Lokalteil, der damals noch "Berliner Teil" hieß. Auch das müssen wir Ihnen zeigen. Der Artikel im Wortlaut:

"Die Geister die sie riefen — sie wollten sie in den letzten Stunden vor der selbst propagierten „Musikschlacht des Jahres" wieder loswerden. Doch hieß das die jugendliche Psyche überfordern. Springers neuerworbene Jugendzeitschrift „Bravo" hatte die „Rolling Stones" als „die härteste Band der Welt" auf Deutschland-Tournee geschickt. Springers Berliner Statthalter, die „BZ" und die „Bildzeitung" hatten wochenlang mit lustvoll Krawall-stimulierenden Schreckensbotschaften vom wüsten Treiben um die Rolling Stones" dafür zu sorgen, daß die Sensationsgier für den Berliner Auftritt der Londoner Beat-Musiker auf den Siedepunkt geriet.

Wer nach der ersten von mehreren Berliner Quartierkündigungen durch die um das Wohl von Gästen und Mobiliar bangenden Hotels mit Zitaten von der Springer-Kampagne berichtete, kam in den Genuß, von der „BZ" als „Miesepeter" tituliert zu werden, der nichts Besseres im Sinn habe, als der Jugend ihr harmloses Beat-Vergnügen zu mißgönnen.

Doch plötzlich, am Tag des Berliner Auftritts der britischen Tumult-Erzeuger, die übrigens ihre erste Rast im Springer-Haus abhielten, machte die ganze Springer-Marschrichtung kehrt: nicht länger waren Meldungen vom Krawall als wesentlichem Hauptmerkmal der „Rolling Stones"-Tournee zu lesen, jetzt, wo alle 21.000 Karten für die Waldbühne ausverkauft waren, bat "Bild" seine jungen Leser: „Bleibt auf dem Teppich! Macht kein Kleinholz!" Und an die Polizisten richtete „Bild" den Wunsch: „Zeigt, daß ihr mit jungen Menschen umgehen könnt!" (Und wenn sie es nicht gekonnt hätten, wären mit größter Wahrscheinlichkeit etliche junge Menschen zerquetscht worden, als sie im Sturm die Bühne nehmen wollten und nur von hilfreich entgegengestreckten Polizistenhänden vor dem Erdrücktwerden durch die Nachrückenden bewahrt wurden.)

Die „BZ versprach zwar noch auf Seite 1: „Heute wollen die Rolling Stones Berlin .erobern'", doch auf Seite 12 hoffte sie einschränkend: „Aber Berlin sollte nachher noch genauso aussehen wie zuvor." Wenn trotz dieser späten frommen Wünsche dennoch etwas passieren sollte, „Bild" und „BZ" kommen — das ist doch klar — bestimmt nicht als .Anheizer" dafür in Betracht.

"Ich kenne jetzt die Hölle!"

Nun, alles gute Zureden kam erwartungsgemäß zu spät. Die „BZ" setzte ein erstauntes Ausrufezeichen hinter ihre gestrige Schlagzeile „Waldbühne kaputt" und auch die „Bild"-Reporterin schien über alle Maßen verwundert, („Ich kenne jetzt die Hölle"), daß es in der Waldbühne so rauh zuging. Gemeinsam mit den „Miesepetern" zogen die Springer-Leute gestern die erste traurige Bilanz der von ihnen in Hauptverantwortung betriebenen „Musikschlacht" (nur der organisatorische Teil wurde von der Nürnberger Karl-Buchmann-Tourneeleitung übernommen).

Als sich die „Rolling Stones" schon nach ihrem dritten Lied, mit Recht verängstigt, von der Bühne zurückzogen, war der Lärm in der Waldbühne nicht mehr zu Überbeaten. Schon vorher, beim „Anwärmen" mit weniger renommierten Beat-Künstlern, überstiegen die Verlautbarungen des dem Barbarismus systematisch verfallenden, von einer Massenhysterie in die andere überwechselnden Publikums die musikalische Phonerzeugung auf der Bühne um ein beträchtliches. Mehr als eine große Terz betrug der Tonumfang der überdimensionalen Lautsprecher sowieso nie, mit deren Hilfe die Beater ihre hundertfach verstärkten Gitarrenblitze und Schlagzeügdonner vernehmbar machten. Was in" einem Jugendlichen vorgeht, daß er, von zu gleichem Fähigen umringt, unter der Einwirkung eines monotonen Lärm-Rhythmusses völlig von Sinnen gerät, darüber gibt es noch keine schlüssigen Erkenntnisse der Kulturkritiker.

Der vorzeitige „Rolling Stones "-Abtritt hatte für die Stätte ihres Wirkens, die schon in den vorhergehenden Stunden starken Prüfungen ausgesetzt war, verheerende Folgen. Von 22 bis 23 Uhr lieferten sich rund 2000 nach Zugaben gröhlende Halbwüchsige in und vor der Waldbühne erbitterte Schlachten mit der Polizei. Dabei ging so ziemlich alles in Trümmer, was nicht aus Stein war: Pilzleuchten, Hydranten, die gesamte Rasenfläche, der größte Teil der Hölzzäune und des eisernen Geländers, 70 bis 80 Prozent der Sitzgelegenheiten. Die Waldbühne ist für die nächste Zeit außer Betrieb gesetzt. Von der Polizei wurden in der Nacht zum Donnerstag insgesamt 85 Jugendliche bei den Krawallen um den Auftritt der "Rolling Stones" festgenommen. Dabei stellte die Polizei bei den; Festgenommenen zwei stählerne Totschläger, eine Luftdruckpistole und eine Stahlgliederkette sicher.

Nach der Registrierung der Personalien, die für spätere Strafverfahren be-nötigt werden, kamen die Minderjährigen zur Jugendhilfe, wo sie von ihren Eltern abgeholt werden konnten. Verletzt wurden 87 Personen, darunter 26 der 369 eingesetzten, zum Teil berittenen Polizisten. 28 davon mußten ins Krankenhaus, darunter vier Polizisten. Rote-Kreuz-Helfer leisteten 61 mal Erste Hilfe. Von der Polizei kam außerdem ein Pferd und ein Lautsprecherwagen zu Schaden. Die Zahl der demolierten und umgekippten Privatwagen, Roller und Mopeds rund um die Waldbühne konnte noch nicht ermittelt werden.

Polizeipferde verletzt, 17 S-Bahnzüge demoliert

Auf der An- und Rückfahrt wurden von den Besuchern 17-S-Bahn-Züge zum Teil .erheblich demoliert, vier davon mußten laut ADN aus dem Verkehr gezogen werden. Die meisten Fensterscheiben und das meiste Inventar büßte ein S-Bahn-Zug ein, der von den Jugendlichen gegen 23 Uhr 30 am Bahnhof Halensee mit der Notbremse zum Halten gebracht und verwüstet wurde. Zum dritten Male in dieser Beat-Nacht griff dabei die Polizei zum Gummiknüppel: Es brauchte fast eine halbe Stunde, bis es 57 Polizisten gelang, die fast 1500 Randalierer vom Bahnsteig zu vertreiben.

Berlin hat also mühelos den bisher von Hamburg gehaltenen „Rolling-Stones"-Krawall-Rekord gebrochen (in Hamburg wurden „nur" 31 Personen verletzt und 47 festgenommen).

Bravo, „Bravo"! Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" ließ sich diesen Leckerbissen natürlich nicht entgehen und berichtete gestern: „Bereits Stunden vor der Veranstaltung terrorisierten Schlägertrupps die Reisenden während des Berufsverkehrs stark besetzten S-Bahn-Zügen, zerschlugen Scheiben, Bänke, Tische, Fensterrahmen und Lampen. Diensttuende Eisenbahner wurden von ihnen tätlich angegriffen und an der Ausübung ihres verantwortungsvollen Dienstes gehindert. MehrereZüge wurden gewaltsam angehalten und Bahnhofszäune an dieser Strecke niedergerissen."

Nach Mitternacht nahmen Vopos zehn bis zwölf Jugendliche aus einem aus West-Berlin kommenden S-Bahn-Zug auf dem Bahnhof Friedrichstraße fest. Mitreisende berichteten der West-Berliner Polizei, es habe sich dabei vermutlich um Randalierer gehandelt, die ihre Zerstörungswut von der Waldbühnen-Veranstaltung bis hierher ins Zugabteil bewahrt hätten. Während laut „Neues Deutschland „durch besonnenes Auftreten der Bahnpolizei der Deutschen Reichsbahn" der S-Bahn-Verkehr aufrechterhalten werden konnte, wirft das SED-Blatt den West-Berliner Kollegen von der BVG Feigheit vor dem Feind vor: „Die West-Berliner BVG hatte noch vor Ende der Veranstaltung fluchtartig ihre in der Nähe der Waldbühne bereitgestellten Autobusse abgezogen." Zwar hatte BVG-Chef Dr. König in der Tat seinen Leuten Order gegeben, falls ihren Bussen Schaden drohe, diese unverzüglich zurückzuziehen, doch kam es nicht so weit: Als sich der Krawall nach Vorstellungsschluß in unmittelbarer Waldbühnenumgebung ausbreitete, stellten die Bus-Fahrer ihre Fahrzeuge auf größere Entfernung zurück, beförderten aber von dort aus alle friedfertigen Beat-Fans ungestört heim.

In einer Stellungnahme fordert die Gewerkschaft der Polizei, „derartige voraussehbare Krawallveranstaltungen in Berlin künftig zu untersagen". Weiter heißt es in dem Protest: „Die Gewerkschaft der Polizei ist der Auffassung, daß es nicht zu verantworten ist, einzig und allein aus Sensationslust Veranstaltungen aufzuziehen, die dazu dienen, die Zügel- und Haltlosigkeit vom Vernichtungswillen besessener junger Menschen zu unterstützen und sie der Massenpsychose preiszugeben."

In einer Kleinen Anfrage ersucht der CDUAbgeordnete Joachim Wolff, der sich schon in einer Anfrage über die Gammler erregt hatte, den Senat um Auskunft, ob der Senat Möglichkeiten sieht, solche Vorkommnisse, wie sie sich am Mittwoch in der Waldbühne ereignet haben, „von vornherein zu verhindern". In der Anfrage heißt es weiter: „Hält der Senat auch solche Vorkommnisse für eine Attraktion Berlins?" Ferner will der CDU-Abgeordnete wissen, ob die Polizeibeamten Berlins dazu da seien, um „von bestimmter Seite aufgeputschtem Mob ausgeliefert zu werden". Außerdem soll der Senat darüber Auskunft geben, wer die Kosten für die Beseitigung der Zerstörungen in der Waldbühne trägt.

Die Stadtreinigung mußte gestern 14 Mann bemühen, um die 30 Kubikmeter „Bravo"-Papierabfall rund um die Waldbühne zu einem großen Müllhaufen zusammenzutragen. Die dabei entstandenen Kosten von rund 1500 Mark sollen, einem früheren Gerichtsurteil des Amtsgericht Charlottenburg zufolge, der werbenden Firma, also „Bravo", angelastet werde.

Schwerer Zoff mit der DDR um die kaputte Reichsbahn

Die Schadenshöhe in der Waldbühne wird, nach den bisherigen Schätzungen, mit 300.000 bis 400.000 Mark angegeben. Dem Vernehmen nach war die Veranstaltung mit 100 000 Mark für Sachschäden und einer Million für Personenschäden versichert.

Der Zonen-Verkehrsminister Kramer hat gestern vom Berliner Senat Schadenersatz für die Beschädigung von S-Bahn-Zügen in West-Berlin am Vortage gefordert. Wie ein Senatssprecher mitteilte, richtete Kramer einen Brief an „den Senat von Berlin", den er durch Boten ins Rathaus Schöneberg überbringen ließ. Für die Übergriffe am Bahnhof Haiensee fordert Kramer einen Betrag von 197 198 DM West. Der Betrag sei einzuzahlen bei der Bezirkskasse der „Deutschen Reichsbahn" an dem West-Berliner Bahnhof Bellevue. Ein Senatssprecher sagte dazu, daß der Senator für Sicherheit und Ordnung die Zwischenfälle bedauert, besonders im Hinblick auf die Übergriffe auf das S-Bahn-Gelände, die eine Transportgefährdung darstellen, doch müsse „die anmaßende Geschäftstüchtigkeit" des Zonen-Verkehrsministers zurückgewiesen werden. Die Täter würden, soweit sie gestellt worden sind, zur Verantwortung gezogen werden. Heute werden die „Rolling Stones" in Wien erwartet. Mehrere Feuerwehrzüge und ein großes Polizeikontingent stehen zu ihrem Empfang bereit.

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