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Berlin hat viele Parks, Grünflächen, Wälder. Der Grund ist ein altes Gesetz.

© Kay Nietfeld/dpa

40.000 Fußballfelder Forst: Wie Berlin zu all seinen Wäldern kam

Berlin gehört zu den grünsten Hauptstädten Europas. Staatlicher Ankauf und dauerhafter Schutz des Waldes gehen auf die Politik vor 100 Jahren zurück.

Von Andreas Austilat

Wer seinerzeit im ummauerten West-Berlin lebte und die steinernen Straßen satthatte, der brauchte nur den Kurfürstendamm runter. Hinten ein Links-rechts-Schwenk, dann war man auf der Koenigsallee.

Die führt damals wie heute an prächtigen Villen vorbei, manchmal blitzt in den Augenwinkeln die Oberfläche eines Sees, und dann schließt sich das Blätterdach, taucht man ein in den Grunewald. Kein Park, wie am Schloss Charlottenburg oder im Tiergarten, richtiger Wald.

Das Besondere aber ist, dass es diesen Wald überhaupt noch gibt. Und nicht nur den. Berlin ist mit rund 29.000 Hektar eine der waldreichsten Städte Europas. Ein Schatz, den die Stadt und ihre damaligen Nachbargemeinden keineswegs geschenkt bekamen, für den der Zweckverband Groß-Berlin, wie er da noch hieß, vor mehr als 100 Jahren hartnäckig verhandelte.

Eben noch Ku’damm, jetzt kühler Tann. Ohne den Grunewald und seine Havelseen wäre West-Berlin in den Mauerjahren wahrscheinlich gar nicht überlebensfähig gewesen. Und auch aktuell kaum erträglich, man stelle sich die Stadt in Corona-Zeiten ohne das ebenso nahe wie weitläufige Grün vor.

Die Koenigsallee wurde gebaut, um den Grunewald plattzumachen

Gebaut wurde die Koenigsallee schon vor 140 Jahren. Nicht, um schneller in den Grunewald zu gelangen. Sondern um ihn plattzumachen. Sie war die Erschließungsstraße für ein neues Stadtquartier.

Sie wurde auch nicht nach einem royalen Herrscher benannt, sondern nach dem Bankier Felix Koenigs. Ebenso wie der nahe Koenigssee. Der wurde wie seine Nachbarn Hubertussee, Herthasee und Dianasee aus einer sumpfigen Rinne modelliert, um das Gelände für Bauherrn attraktiver zu machen. Luxusquartiere auf einem explodierenden Immobilienmarkt.

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Vor 140 Jahren beschleunigte sich das Wachstum Berlins enorm. Wie das der umliegenden, noch selbstständigen Gemeinden, darunter Städte wie Charlottenburg oder Rixdorf, das spätere Neukölln. Aber allein das alte Berlin wuchs im Durchschnitt um 90.000 Neubürger im Jahr, mehr als dreimal so viele wie heute. Für sie entstanden immer engere, immer höhere Mietskasernen. Eine wohlhabendere Klientel allerdings zog es raus aus der enger werdenden Stadt.

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Wohnungsbau wurde zu einer Frage des Gemeinwohls. Und die Gemeinden um Berlin konnten ihre Wälder und Felder gar nicht schnell genug veräußern, um Platz für neue Steuerzahler oder neues Gewerbe zu schaffen. Dabei traten sie in Konkurrenz zueinander.

Größter Verkäufer war der preußische Staat. Otto von Bismarck persönlich, damals Kanzler, handelte mit einer Terraingesellschaft – wie man die Immobilienentwickler zur damaligen Zeit nannte – den Bau des neuen Boulevards Kurfürstendamm aus, überließ ihr dafür 230 Hektar Grunewald beiderseits der Koenigsallee.

Das Geschäft mit dem Wald lief so gut, dass die Berliner schon bald „Im Grunewald ist Holzauktion“ sangen, denn der Kahlschlag brachte billiges Holz mit sich. Vor allem aber neues Bauland. Der preußische Fiskus war auch bereit, immer größere Flächen abzutreten. Das provozierte düstere Prophezeiungen und schließlich Widerstand.

„Seit 1901“, hieß es zehn Jahre später in einer Mahnschrift, „schwellen die Verkäufe lawinenartig an“. Die zeitgenössische Schrift mit dem programmatischen Titel „Die Berliner Waldverwüstung“ listet allein für diesen Zeitraum 1800 Hektar auf, die in Bauland verwandelt wurden. Insgesamt ein Drittel des Grunewalds einschließlich der Havelufer und Pichelswerder sollten fallen.

Doch der Protest gegen die „Waldschlächterei“ formierte sich in einer ersten grünen Bürgerbewegung, wie Angela von Lüchte in einer Untersuchung für den Bund Umwelt- und Naturschutz, BUND, belegt. 1909 sammelten Zeitungen wie das „Berliner Tageblatt“ 30.000 Unterschriften.

Der Protest ging quer durch alle Parteien. Am Ende stand ein Wunder: Der sogenannte Dauerwaldvertrag von 1915 – mitten im Ersten Weltkrieg geschlossen. Die Berliner Wälder sollten jeglicher Immobilienplanung auf Dauer entzogen werden.

So viel Wald hat Berlin.
So viel Wald hat Berlin.

© Tagesspiegel/Böttcher

Wo auch immer Wald zu verkauf stand, kaufte Berlin

Drei Jahre hatten Städte und Gemeinden nun mit einer Stimme im Zweckverband Groß-Berlin mit dem Staat Preußen verhandelt, den Preis von ursprünglich beinahe 179 Millionen Reichsmark auf 50 Millionen drücken können. Und als vor 100 Jahren aus dem Zweckverband die Einheitsgemeinde Groß-Berlin hervorging, übernahm diese nicht nur den Vertrag und zahlte die ausstehenden Raten, hinzu kamen die Flächen, die bislang eigenständige Gemeinden selbst angekauft hatten.

Groß-Berlin setzte diese Politik fort, verabschiedete 1922 ein Gesetz, das den Bestand des gesamten Waldes garantieren sollte, mehr noch, der Bevölkerung freien Zugang zu den Seen versprach. Und die damalige Stadtregierung setzte die Ankaufspolitik fort, wo immer Waldflächen in der Stadt oder auch an der Peripherie außerhalb zu erwerben waren, bis 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg.

Welchen Wert diese rund 29.000 Hektar, davon 16.000 innerhalb der Stadtgrenzen, heute haben, ist „unschätzbar“, wie es in der jüngst beschlossenen „Charta Stadtgrün“ des Senats heißt. Tatsächlich ist er höchstens annähernd zu beziffern.

Im bundesdeutschen Durchschnitt werden in Stadtnähe bis sechs Euro für den Quadratmeter Wald aufgerufen. 29.000 Hektar sind 290 Millionen Quadratmeter. Das wären dann also knapp zehneinhalb Milliarden Euro. Eine Rechnung freilich, von der man zum Beispiel beim Hauptsitz der Berliner Forsten, einer repräsentativen Villa direkt am Waldrand draußen in Friedrichshagen, gar nichts hören will.

Wie viel ist der Wald wert?

Wenn Dirk Riesterpatt, Gruppenleiter im Friedrichshagener Forstamt, über den Wald spricht, dann klingt das, als ob er von einem lebendigen Organismus redet. Aber er kann auch anders. „Wenn Sie den Wert des Waldes berechnen wollen, dann müssen Sie Systemdienstleistungen berücksichtigen“.

Gemeint ist beispielsweise die Luft, die der Wald filtert, überhaupt seine Eigenschaft als Kohlenstoffspeicher. Die Temperaturen, die er im Sommer herunterkühlt. Die Arten, die in seinem Schutz gedeihen. Das Trinkwasser, das unter ihm gewonnen wird, in Berlin stammen 30 Prozent allein aus dem Grundwasser unter den Wäldern.

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Doch auf 29.000 Hektar könnte man zum Beispiel 40.615 Fußballfelder anlegen. Oder eine Stadt von der Größe Dortmunds aufbauen. Die bietet immerhin mehr als einer halben Million Bürgern Platz. Würde man vom Berliner Wald also nur eine Scheibe abschneiden, es wäre genug Raum da, um Berlins wohnungspolitische Probleme mit einem Schlag zu lösen.

Für Riesterpatt undenkbar. „Absolut begeisterungswürdig“ sei das Engagement gewesen, das die Bürger vor mehr als 100 Jahren bewiesen hätten, um den Wald zu schützen. Abgesehen von den Besitzverhältnissen habe der Dauerwaldvertrag eine derart hohe moralische Hürde geschaffen, dass der Wald praktisch unantastbar sei. Die Details regele heute das Landeswaldgesetz mit seinen Schutzbestimmungen.

Kein Bürger soll mehr als 500 Meter vom Grün entfernt leben

Die sind ohne Frage hoch. Unüberwindbar sind sie nicht. Eine parlamentarische Anfrage zweier Abgeordneter der Linken ergab 2018, dass seit 2006 rund 66.000 Quadratmeter, also 66 Hektar Waldfläche, einer „anderen Nutzungsart zugeführt“ wurden.

Nicht in allen Fällen konnten entsprechende Ersatzflächen aufgeforstet werden. In solchen Fällen musste Kompensation geleistet werden. Tatsächlich, sagt Dirk Riesterpatt, werde es in Berlin immer schwerer, Brachen zu finden, die als Ersatzflächen infrage kämen.

Trotzdem scheint der Wald gesichert, auch wenn es hin und wieder zu Merkwürdigkeiten kommt wie auf dem Teufelsberg, wo der Flächennutzungsplan in einem Waldgebiet zugunsten eines Investors geändert wurde, damit der inmitten des Grunewalds ein Hotel bauen durfte. Das Vorhaben hatte vor Gericht keinen Bestand. Das Beispiel zeigt aber auch, Flächennutzungspläne kann man ändern, Besitzverhältnisse sind eindeutiger.

Damals Dauerwaldvertrag, heute die Charta Stadtgrün

Drei Jahre wurde an der „Charta Stadtgrün“ gearbeitet, einer Selbstverpflichtung des Senats, die dieser gerade beschlossen hat. „Die Wälder werden erhalten“, heißt es darin, „Verluste müssen kompensiert werden.“

Aber die Charta will mehr, sie zielt auf die dauerhafte Erhaltung und die Pflege des Stadtgrüns ab. Unter anderem wird versprochen, dass jeder Bürger in nicht mehr als 500 Metern Entfernung von der eigenen Wohnung Zugang zu einer Grünanlage haben soll.

Schon im Doppelhaushalt 2020/21 sollen mehr Mittel für die Pflege von Grünanlagen und Straßenbäumen bereitgestellt werden, für jeden Straßenbaum zum Beispiel 80 statt bisher 48 Euro. Sogar Flächenankauf soll möglich sein, wenngleich nicht in dem Umfang wie vor 100 Jahren.

Auch Kleingärten und Friedhöfe sind Teil des Stadtgrüns. Für sie sieht es nicht ganz so gut aus, auch wenn ihr Wert für das Stadtklima anerkannt ist. Zwar sollen 82 Prozent der Kleingartenflächen erhalten bleiben, weitere zehn Prozent „nach Möglichkeit nicht angetastet“ werden. Die Erschließung von Ersatzflächen wird schwierig, „ist aufgrund der vielfältigen Flächenkonkurrenz im Rahmen der wachsenden Stadt nur im Einzelfall und in geringem Umfang denkbar.“
Die Situation ist der vor 100 Jahren ähnlich. Auch damals war die Flächenkonkurrenz enorm. Umso erstaunlicher, welche Prioritäten Berlin damals setzte.

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