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Am 9. November 1989 öffnete sich auf Druck von Hunderten Ost-Berlinern der Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße.

© Mike Wolff

30 Jahre Mauerfall: An der Bösebrücke haben sich Lebenswege getrennt – und wieder vereint

Spurensuche am alten Grenzübergang Bornholmer Straße: Wie Nachbarn in Prenzlauer Berg und Wedding Teilung und Wiedervereinigung erlebt haben. Eine Reportage.

Von Andreas Austilat

Jeder hat seine eigenen Erinnerungen an diese Brücke. Aber es gibt ein Detail, das in allen Geschichten derer auftaucht, die sie in den Berliner Mauerzeiten überschreiten durften: Die weiße Linie. 31 Meter lang zog sie sich von Geländer zu Geländer quer über die Bösebrücke, die viele nur Bornholmer nennen – wie die Straße, die über sie hinwegführt. Der weiße Strich war die Demarkationslinie zwischen Ost und West, zwischen Prenzlauer Berg und Wedding.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 schoben sich binnen einer Stunde 20.000 Menschen von Osten her über diese Linie hinweg – mit gekreuzten Fingern, wie David Bowie, Brite mit Berlinerfahrung, in seinem Song „Where are we now“ behauptet. Hätte ja ein Traum sein können. Oder die einmalige, spontane Reaktion eines überforderten Grenzpostens. Tatsächlich war die Order „Wir fluten jetzt“, gegen 23.30 ausgegeben von Stasi-Oberstleutnant Harald Jäger, einer jener Sätze, der die Mauer zum Einsturz brachte. Dieser Übergang hier war der erste, der plötzlich offenstand.

Wolfgang Krüger, 62 Jahre alt, Weddinger von Geburt und so kräftig wie man eben ist, wenn man sein bisheriges Erwerbsleben auf dem Bau verbracht hat, ist schon als Junge oft über die Linie gegangen. Viele seiner Verwandten wohnten auf der anderen Seite. „Wenn man sich näherte“, sagt er heute, „steckte man besser nicht mehr die Hände in die Taschen.“ Weil einen der Posten auf seinem Turm durch das Fernglas beobachtete. „Und dann glaubten die vielleicht, man hätte gerade etwas versteckt.“

Im Grünen. Wolfgang Krüger lebt auf der Weddinger Seite der Brücke.
Im Grünen. Wolfgang Krüger lebt auf der Weddinger Seite der Brücke.

© Mike Wolff

Kurz vor Mitternacht kamen ihm Tausende entgegen

Am Abend des 9. November 1989 gegen 21 Uhr stand Krüger auf der Westseite der Bornholmer Straße. Die rund 500 Ost-Berliner, die sich drüben versammelt hatten, und „Macht das Tor auf“ riefen, waren jedoch nicht zu sehen. Und so ging Krüger wieder nach Hause.

Als er kurz vor Mitternacht noch einmal zur Brücke wollte, war kein Durchkommen mehr, Tausende zogen ihm entgegen. Die Fenster in den Erdgeschossen der Nebenstraßen in seinem Weddinger Kiez standen offen, Gläser wurden herausgereicht, der Wirt der Kneipe Euler-, Ecke Bellermannstraße rief „Freibier für alle“.

30 Jahre später ist vom Postenturm auf der Ostseite nur noch das Betonfundament geblieben. Erhalten ist ein Stück der Hinterlandmauer, sie war nur eine von sieben Barrieren an dieser Stelle, inzwischen steht sie unter Denkmalschutz. Der Streifen davor heißt jetzt Platz des 9. November, und Fotowände zeugen von den Ereignissen, als das hier Teil des Eisernen Vorhangs war.

Die Kneipe mit dem großzügigen Wirt, die gibt es auch nicht mehr. Auch in Wedding ist die große Zeit der Eckkneipen lange vorbei, sagt Krüger. Man muss sich heute schon etwas einfallen lassen, etwa einen irisch-schottischen Pub betreiben wie das Offside, das in der Jülicher Straße mit einer Unmenge Whiskys und Bieren für sich wirbt.

Schönster Brückentag. Auf der östlichen Seite zeugen Fotowände von den Ereignissen.
Schönster Brückentag. Auf der östlichen Seite zeugen Fotowände von den Ereignissen.

© Mike Wolff

Unter der Bösebrücke hindurch in den Westen geflohen

Die kleinen Geschäfte, die einst die Jülicher Straße säumten, sind ebenfalls weg. Heute geht man hier ins nahe Gesundbrunnencenter einkaufen, wie Krügers Nachbar Christian Hardenberg bestätigt. Die beiden leben am Sandkrug, eine Siedlung mit Kleingartencharakter am Weddinger Ufer der Brücke.

Hardenberg war 1989 noch in Kreuzberg daheim, das Haus in der Kolonie an der Westseite der Bornholmer Straße gehörte den Eltern seiner Frau Marlies, die hier aufwuchs. Aber auch der 70-Jährige hat seine speziellen Erinnerungen an den Kiez. Die älteste führt ihn unter der Bösebrücke durch. Sechs Gleise liegen dort, bilden eine breite Schneise, die schon immer Wedding von Prenzlauer Berg schied. Hier verkehren mehrere S-Bahnlinien und die Züge Richtung Ostsee.

Im Frühjahr 1961 kam der zwölfjährige Christian mit seinen Eltern aus Rügen am Bahnhof Gesundbrunnen an. Niemandem hatte er von der Reise erzählen dürfen, die Hardenbergs waren auf der Flucht aus der DDR. Im August 1961 stand dann die Mauer, solche Reisen waren jetzt unmöglich. Die Züge Richtung Ostsee wurden zum Ostbahnhof umgeleitet. Und die S-Bahn stoppte auf ihrer Fahrt nach Norden nicht mehr an der Bornholmer Straße.

Rüber. Zum Stammlokal von Christian und Marlies Hardenberg geht’s über die Brücke.
Rüber. Zum Stammlokal von Christian und Marlies Hardenberg geht’s über die Brücke.

© Mike Wolff

Wo einst die Grenzer waren, ist heute ein Supermarkt

Bis 1990 blieb der Bahnhof geschlossen. Heute halten hier gleich mehrere Linien. Am eisernen Geländer des Brückenbogens sind Dutzende Fahrräder angekettet, in der Mitte rauscht die M 13 vorbei, die Straßenbahn, die Prenzlauer Berg und Wedding verbindet. „Die gab es damals nicht“, sagt Hardenberg, Busse und Tram drehten auf beiden Seiten an der Grenze ab.

Die weiße Linie, die ist längst verschwunden. Doch in Hardenbergs Kopf ist sie immer noch da, wenn er heute die Brücke passiert. Etwa 35 Schritte sind es von Westen aus, dahinter folgen noch einmal gut 100 bis zum Brückenende. Das Westterritorium endete dort, wo die Gleise beginnen. Die Demarkationslinie war also ziemlich genau an der Außenkante des Bahnhofsgebäudes. Ungefähr dort, wo die Grenzer nach Ausweis und Passierschein verlangten, sind heute die Kassen eines Lidl-Supermarktes.

An der Brücke spielten sich Dramen ab. 1962 flüchtete ein DDR-Polizist, er hatte die Schneise schon überwunden, als ihn doch noch tödliche Kugeln trafen. 1975 wurde der Koch der Schweizer Botschaft auf der Brücke verhaftet. Er hatte versucht, seine Freundin aus Ost-Berlin im Kofferraum auszuschmuggeln.

Hardenberg fädelte sich 1973 mit seinem metallicgrünen Ford 20 M in die Spur ein, deren Beginn man von Westen kommend am rechten Brückenrand Richtung Lidl am alten Pflaster noch erkennen kann. Vielleicht empfanden die DDR-Grenzer den Auftritt eines 24-Jährigen in so einem Schlitten als provokant. Vielleicht waren ihre Trabbi-gewöhnten Augen aber auch einfach neugierig auf den Sechszylinder unter der Haube des Fords. Jedenfalls nahmen sie ihn auseinander – Kofferraum, Türverkleidung, Rückbank, das ganze Programm. In der Baracke musste er sich bis auf die Unterhose entkleiden. Es sind solche Schikanen, an die er manchmal heute noch denkt, wenn er die Linie überschreitet.

Ein Leben an der Mauer

Helmut Döring kannte Hardenberg damals noch nicht. Aber die beiden hätten sich schon 1961 begegnen können, als der zwölfjährige Christian am Gesundbrunnen eintraf und der gleichaltrige Helmut von seinem Vater von Prenzlauer Berg aus regelmäßig rübergeschickt wurde, um in einem kleinen Kiosk Westzigaretten zu kaufen.

Helmut Döring ist in der Czarnikauer Straße aufgewachsen, aber sein Revier war auch der Humboldthain im Westen. Es gab dort in der Nähe ein Kino, seine Lieblingsfilme waren die Western mit Fuzzy Jones, in den 50er Jahren sehr populär. „Fuzzy“ wurde zum Schlagwort für den Trottel schlechthin. 1961 erreichte Döring nicht nur das Kino nicht mehr. Sein Spielplatz an der Bornholmer Brücke verschwand ebenfalls, dort wurde nun der Kontrollpunkt gebaut. Und die Bewohner der Norwegerstraße mussten jetzt über die Höfe der Finnländischen Straße, denn die Vorderseite ihrer Häuser war plötzlich Sperrgebiet.

Bodenständig. Helmut Dörings Familie hat seit 1926 eine Laube an der Brücke.
Bodenständig. Helmut Dörings Familie hat seit 1926 eine Laube an der Brücke.

© Mike Wolff

Dörings Familie besitzt schon seit 1926 eine Laube in der Kolonie Bornholm I auf der Ostseite der Brücke. Die Kolonie grenzte nach 1961 unmittelbar an die Mauer. Leitern durften nicht mehr herumstehen, sondern mussten mit Ketten gesichert werden. Die Zugänge zur Kolonie wurden verschlossen, Besucher mussten sich anmelden, erzählt Döring. Und wenn in den 80er Jahren jemand seine Laube aufgab, kam der neue Pächter in der Regel von der Staatssicherheit.

Döring war damals Kraftfahrer bei den Ost-Berliner Verkehrsbetrieben. Den 9. November 1989 verbrachte er auf einer Dienstfahrt in Thüringen. Als er am 10. wieder da war, hielt er vergeblich nach seinen Kollegen Ausschau. Die guckten sich gerade den Westen an. Am 11. ging auch er über die Brücke. Den Kiosk, in dem er einst für den Vater Zigaretten holte, den gab es nicht mehr. Das Kino war auch verschwunden. Aber das Gefühl, über die weiße Linie schreiten zu dürfen, das wird er nicht vergessen.

Früher war alles braun, heute strahlen die Fassaden in Apricot

Auch sein Kiez auf der Ostseite der Bornholmer Straße hat sich verändert. In dem Lebensmittelladen an der Ecke Malmöer, in dem er früher einkaufen ging, ist heute eine Finanzagentur. Überhaupt sind wie auf der anderen Seite viele kleine Läden verschwunden, dafür haben neue aufgemacht: Ein Physiotherapeut, eine Computerwerkstatt, ein Fahrradladen. Der bietet geführte Mauertouren an. „Die sind unser Bestseller“, sagt der junge Mann hinter dem Tresen. Denn wer weiß schon, wo sie wirklich stand. 80 Prozent der Pächter in Bornholm I sind neu, schätzt Döring. Das gleiche gilt vermutlich für die Anwohner hier.

Die Fassaden im Viertel leuchten heute in Apricot, Grün und auch mal Rot. „Früher waren die alle braun“, erinnert sich Döring. Deshalb sticht ein Haus heraus, die Bornholmer Straße 76 hat immer noch den alten braunen Rauputz. Ein Mann schleppt gerade zwei Bündel mit Briketts durch die offene Haustür. „Ja“, bestätigt er, „im Hinterhaus gibt es noch Ofenheizung.“ Zum Glück, fügt er hinzu, denn nur deshalb sei die Miete für ihn noch erschwinglich.

In der Schönfließer Straße bäckt Siebert immer noch Brötchen, den Laden gibt es seit 1906. Eine Ecke weiter unterhält das Bezirksamt die Begegnungsstätte für Senioren. „Griechischer Wein“ schallt bis auf die Straße, heute ist Tanz. Den gab es hier auch schon zu DDR-Zeiten, vielleicht nicht mit Udo Jürgens.

Wie ein Wessi zum Wossi wurde

Mitten in der Kolonie Bornholm I liegt die „Bauernstube“, das Vereinslokal der Kleingärtner. An einem der Tische sitzen Christian und Marlies Hardenberg. Hier sei er vom Wessi zum Wossi geworden, sagt er. Am Anfang hätten sie ja ein wenig gefremdelt mit den neuen, nun passierbaren Wegen. Wenn sie etwa von Kreuzberg in den Wedding fuhren, dann nicht quer durch über den Alex, sondern am Reichstag vorbei und über die Heidestraße.

Irgendwann seien sie mal hier gelandet, weil es in ihrer Kolonie auf der Westseite kein Vereinslokal gibt. „Ich saß hier also am Tisch“, erzählt Hardenberg, „da kam ein älterer, mir unbekannter Mann und begrüßte mich mit Handschlag.“ Das gefiel ihm. Hier wurde live die Musik gespielt, die sie mögen, Country zum Beispiel. Hier richtete Marlies schließlich ihre Feier aus, als sie in Pension ging. Und ihre neuen Freunde machten mit.

Am 30. Jahrestag des Mauerfalls werden sie wieder hier sein. Eigentlich hatte der Wirt ja geplant, einen Bierstand auf der Brücke aufzubauen. Aber er erhielt keine Genehmigung dafür. Was ihn ein wenig wundert. Denn auf der Bösebrücke, vor 30 Jahren immerhin ein Brennpunkt, werden sich zwar die benachbarten Bezirksbürgermeister wie jedes Jahr die Hand reichen, offizielle Veranstaltungen sind aber bisher nicht geplant. Nun haben sie in der Bauernstube eine große Party geplant. Mit Feuerwerk, das im Moment der Grenzöffnung starten soll. Helmut Döring wird dabei sein, die Hardenbergs und Wolfgang Krüger. Denn wenn sie sich vor 30 Jahren auch verpasst haben, inzwischen kennen sie sich gut.

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