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Wende-Schicksal. Für viele Bürger, die anfangs euphorisch den Mauerfall begrüßten, brachte der Zusammenbruch der DDR nach der neuen Freiheit auch persönliches Leid. Hunderttausende verloren ihre Arbeitsplätze, auch der Großvater von Raphael Gellrich gehörte dazu.

© Doris Spiekermann-Klaas

25 Jahre Mauerfall: Die Angst vor der Wende

Raphael Gellrichs Großvater erlebte den Mauerfall mit ambivalenten Gefühlen. Er sorgte sich um die Zukunft seiner Familie und bangte um seinen Arbeitsplatz. Den verlor er zwei Jahre später tatsächlich.

„Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und ich fühlte mich verunsichert. Ich bekam Angst: Was ist, wenn das Institut geschlossen würde?“

    Aus dem Aufsatz von Raphael Gellrich

Zur Zeit des Mauerfalls lebten und arbeiteten Raphael Gellrichs Großeltern in Potsdam. Für seine Arbeit am dortigen Institut für Biotechnologie hatte sein Großvater aber ein bis zwei Mal pro Monat in der Friedrichstraße in Berlin zu tun. Wo man heute mit der S-Bahn-Linie S1 direkt Richtung Südwesten einsteigt, war im geteilten Berlin zu beiden Seiten ein Kopfbahnhof. Um von Potsdam (DDR) zur Friedrichstraße (DDR) zu kommen, musste man zuerst auf einem Umweg nach Karlshorst fahren und dort umsteigen. Der Zug zur Friedrichstraße wurde umgangssprachlich „Sputnik“ genannt.

Unter den Linden war damals eine grüne Fläche, erinnert sich der heute 74-Jährige. Man konnte sich im Freien hinsetzen oder bis kurz vor den heutigen Pariser Platz und das Brandenburger Tor spazieren. Dort war die Grenze nach West-Berlin. Wenn Gellrich nach seinen Arbeitsbesuchen in der Friedrichstraße bis zum stündlich fahrenden Zug noch ein paar Minuten blieben, dann ging er hier noch gerne ein wenig bummeln. Manchmal lief er auch zum Intershop nahe dem Bahnhof. Dort gab es Produkte für internationale Besucher Ost-Berlins. Westdeutsche Mark, mit denen man dort bezahlen musste, hatte Gellrich nicht, aber er schaute sich gerne um und verglich mit den Läden für DDR-Bürger. Im Intershop gab es höherwertige Waren, beobachtete Gellrich.

Menschenstau am 10. November 1989 am Bahnhof Friedrichstraße: Die DDR-Bürger standen mehr als einen Kilometer weit Schlange für einen Abstecher nach West-Berlin.
Menschenstau am 10. November 1989 am Bahnhof Friedrichstraße: Die DDR-Bürger standen mehr als einen Kilometer weit Schlange für einen Abstecher nach West-Berlin.

© Kai-Uwe Heinrich

Vom Mauerfall erfuhr er am 10. November 1989 bei einem dieser Arbeitsbesuche in der Friedrichstraße. Jemand war mit der Meldung in eine Besprechung hineingeplatzt. Doch während viele Ost-Berliner auf die Nachricht hin zu den Grenzübergängen strömten, irrte Gellrich einige Zeit in der Gegend rund um die Friedrichstraße herum. Schon in den vorangegangenen Monaten hatte er die politischen Geschehnisse in der DDR eher mit Sorge beobachtet. Er arbeitet am staatlichen Institut und seine Frau war in Potsdam für die Bezirksverwaltung tätig. Was würde eine Auflösung des Staates für die beiden und für ihre Kinder bedeuten?

Gegenseitige Verdächtigungen nach der Wende

In seinem Aufsatz hat der neunjährige Raphael Gellrich versucht, sich in diese Gedanken und Sorgen hineinzuversetzen. Den Aufsatz über den Fall der Berliner Mauer hat er in Ich-Perspektive geschrieben. Vom eigentlichen Erleben des Großvaters an dem Tag wechselt er immer wieder zu den Fragen in Großvaters Kopf. Raphael hat auch seine Mutter befragt, die damals in Rostock Anglistik studierte, und seine Großmutter. Was der Großvater sagte, fand er aber besonders interessant: Dieser habe zuerst die Fragen zu 1989 beantwortet und dann auch noch vom Bau der Mauer erzählt. Am 13. August 1961 – Raphaels Großvater holte damals seine Hochschulreife nach – war er nämlich an der Schönhauser Allee als Ordnungskraft eingeteilt. In seinem Aufsatz verwebt Raphael auch diese Erinnerungen: Wie Menschen auf beiden Seiten der Grenze sich damals weinend zuwinkten, während zwischen ihnen die Straße zugemauert wurde.

Trabis und Motorradfahrer im Stau auf der Schönhauser Allee: Die war schon in den Siebzigern in der DDR eine viel befahrene Haupt- und Einkaufsstraße.
Trabis und Motorradfahrer im Stau auf der Schönhauser Allee: Die war schon in den Siebzigern in der DDR eine viel befahrene Haupt- und Einkaufsstraße.

© Peter Heinz Junge

Mit der Wende begann für Raphaels Großvater nicht nur die Zeit der Aufarbeitung der Stasi-Aktivitäten, sondern auch der gegenseitigen Verdächtigungen. Seinen Vornamen möchte er deshalb auch heute lieber nicht in der Zeitung lesen. Während er am 10. November 1989 so durch die Gegend der Friedrichstraße irrte, kam er an einer Schlange von Menschen vorbei, die hinüber wollten nach West-Berlin. Plötzlich fühlte er sich feindselig beobachtet. Weil er an diesem Tag einen Anzug trug? Hielten ihn die jungen Leute, die nach West-Berlin wollten, für einen Stasimitarbeiter? Schnell ging Gellrich weiter Richtung Friedrichstraße, kaufte eine Fahrkarte für 70 ostdeutsche Pfennig und machte sich auf den Weg zu seiner Frau. Er hatte den ganzen Tag über nicht mit ihr sprechen können.

Wörterbücher und Jeans vom Begrüßungsgeld kaufen

In den Tagen, die folgten, blieb für Familie Gellrich ein ambivalentes Gefühl. Bei Massenphänomenen bleibe man lieber ruhig und halte sich etwas zurück, sagt Raphaels Großmutter heute. Das „Begrüßungsgeld“ für Ostdeutsche empfand die Familie anfangs als Almosen. Erst als man sah, dass es für alle war, holte sie es sich auch. Die damals 23-jährige Tochter Kristina, Raphaels Mutter, hatte schon eine lange Einkaufsliste. Ganz oben standen Wörterbücher und Jeans.

Kristina Gellrich begann mit dem Mauerfall deutsche Politik zu verfolgen, zuvor hatte sie sich vor allem für die USA und England interessiert. Im Studentenheim sah man im Fernsehen die Debatten der Runden Tische, erinnert sich die heute 48-Jährige. Und daran, wie sehr sie sich ärgerte, wenn eine Klausur mit einer Übertragung zusammenfiel.

Raphaels Großvater beobachtete weiter mit Vorsicht die Veränderungen in Berlin. Als ihm Kollegen erzählten, dass sie bei der Öffnung der Glienicker Brücke mit Sekt empfangen worden waren, konnte er es nicht glauben. Die Sorge um seinen Arbeitsplatz erwies sich als berechtigt: 1990 wurde Gellrich mit der Hälfte seines DDR-Gehaltes auf Kurzarbeit gesetzt, 1991 wurde das Institut abgewickelt und er verlor seine Stelle. „Für mich endete die Geschichte nicht glücklich“, sagt er.

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