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Noel Martin im Jahr 2006: Nachdem Neonazis ihn angriffen, war er querschnittsgelähmt.

© Anette Kögel

24 Jahre nach dem Anschlag in Mahlow: Neonazi-Opfer Noël Martin gestorben

Mit 60 Jahren ist Martin, der seit dem Attentat 1996 im Rollstuhl saß, gestorben. Im Interview sprach er 2017 über sein Leben danach und Versöhnungsarbeit.

Der Brite Noël Martin ist am Dienstag in einem Krankenhaus in seiner Heimatstadt Birmingham gestorben, sagte ein enger Vertrauter dem Tagesspiegel und bestätigte damit Informationen des „rbb“. Nach einem Angriff durch Neonazis im brandenburgischen Mahlow am 16. Juni 1996 war Martin querschnittsgelähmt. Er wurde 60 Jahre alt.

Noël Martin führte gemeinsam mit seiner Frau eine Stiftung, die Schülerreisen nach Birmingham und Mahlow organisiert, um Vorurteile bei Jugendlichen abzubauen. 2001 kehrte Martin nach Mahlow zurück, um eine Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus anzuführen. Aus Anlass seines Todes veröffentlicht der Tagesspiegel nochmal ein Interview, das Martin im Juni 2017 gemeinsam mit einem engen Vertrauten gab.

Es geschah am 16. Juni 1996: Ein 17- und ein 24-jähriger Deutscher beschimpfen den britischen Bauarbeiter Noel Martin und zwei schwarze Kollegen am Bahnhof in Mahlow. Um Ärger zu vermeiden, fährt der 1959 in Jamaica geborene Martin mit dem Auto los. Der Stein, den die Täter ihm ins Auto werfen, erschreckt ihn so, dass er sich mit dem Wagen überschlägt und gegen einen Baum prallt. Seither ist Noel Martin querschnittgelähmt und ein Pflegefall. Die Täter saßen in Haft, Noel Martin für immer im Rollstuhl. Annette Kögel sprach mit ihm und mit Michael Ferguson, seinem Freund und Vertrauten aus Charlottenburg.

Es ist schon ein paar Jahre her, dass wir Sie kennenlernen durften, Noel Martin. Schön, mit Ihnen in Birmingham zu telefonieren. Wie geht es Ihnen heute?
Leider nicht so gut. Ich hatte vergangenes Jahr einen Herzinfarkt und war dieses Jahr mehrmals im Krankenhaus wegen diverser Infekte und Blackouts. Es wird immer schwerer für mich, munter zu bleiben. Ich werde zwar von meinen Pflegern gut versorgt, aber meine Motivation weiterzumachen, ist arg geschwächt.

So zu leben wie ich, da kann sich keiner reinversetzen. Nach der Attacke habe ich mich leidenschaftlich für Rennpferde interessiert, heute nicht mehr so. Mein Gedächtnis lässt stark nach, ich kann mich zehn Minuten nach einem Rennen im Fernsehen nicht mehr erinnern, wer gewonnen hat. Ich werde zu Hause betreut, kann nicht mehr Freunde empfangen wie früher, das Leben ist sehr trist geworden. Aber hey, wie geht es gerade mit den Kindern in Mahlow, läuft alles gut?

Michael Ferguson – erzählen Sie uns bitte von der Initiative.
Gern – in dieser Woche ist ja eine Gruppe von acht Jugendlichen, sie sind 13 bis 15 Jahre alt, mit zwei Betreuern aus Birmingham hier zu Besuch in Mahlow, wo sich dank der Initiative der Gruppe „Bürger für Bürger“ eine ähnlich große gleichaltrige Gruppe zusammengetan hat.

Für die Dauer des Besuchs von Mittwoch bis Sonntag sind sie Gastgeber. Die Jugendlichen haben viel vor und übernachten zusammen in Vereinsräumen des Sportklubs. Außer sportlichen Turnieren stehen zum Beispiel Besichtigungen des Reichstagsgebäudes sowie der Dahlewitzer Betriebsstätte von Rolls Royce auf dem Programm. Im Mittelpunkt steht selbstverständlich der Gedenktag am morgigen 16. Juni, dem 21. Jahrestag des Angriffs auf Noel. Ein Gegenbesuch in Birmingham ist dann für 2018 geplant.

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Herr Ferguson, wie haben Sie Noel Martin kennengelernt?
Wissen Sie, Noel und ich telefonieren mehrmals im Monat, und das seit Jahren – er ist einfach eine Inspiration für alle, die ihn kennen. Ein Bericht im Tagesspiegel im Sommer des Jahres 2009 war der Anfang von allem. Ich war gerade in den Ruhestand getreten und hatte Zeit, suchte nach einer für mich neuen Art der ehrenamtlichen Betätigung, und las über Noel und seine Stiftung.

Daraufhin habe ich in Potsdam bei der Stiftung Großes Waisenhaus angerufen und meine Dienste angeboten. Ich dachte, vielleicht kann ich aufgrund meiner Zweisprachigkeit behilflich sein. Und so kam es zu einem ersten Besuch und Kennenlernen in Birmingham, seitdem arbeiten wir an den Zielen seiner Stiftung gemeinsam und vertrauensvoll zusammen.

Und was schätzen Sie an ihm besonders?
Sein Humor und seine innere Kraft, die ihn trotz seiner extremen Behinderung und leider regelmäßig eintretenden weiteren gesundheitlichen Rückschläge immer wieder aufmuntern. Ich habe Noel zuletzt im Februar besucht, um den jetzigen Besuch der Jugendlichen in Mahlow vorzubereiten. Diese Aktivitäten seiner Stiftung sind für ihn und auch für mich sehr wichtig.

Noel Martin, nach dem rassistisch motivierten Anschlag hatten Sie sogar öffentlich angekündigt, sich das Leben zu nehmen, Wie machen Sie weiter?
Seit jenem Tag ist in meinem Leben nichts mehr wie vorher gewesen. Meine Stiftung ist hoffentlich ein kleiner Beitrag dazu, dass die Jugend von heute andere Ideale und Werte anstrebt als die irregeleiteten Jungs, die mich damals in Mahlow aus rassistischen Gründen angriffen.

Es haben über die Jahre mehrere Besuche stattgefunden zwischen jungen Menschen aus Birmingham und Blankenfelde/Mahlow, und das freut mich sehr. Ich kann wenigstens für diese jungen Menschen noch etwas bewegen. Als ich das letzte Mal in Deutschland war, das ist schon einige Zeit her, da kniete ein türkischer Mann vor mir nieder und zeigte sich bewegt. Ich sagte, Du kannst aufstehen und gegen Rassismus und dafür kämpfen, dass sich was ändert.

Herr Ferguson, es gibt die Initiative, den 16. Juni zum Gedenktag für Opfer rechter Gewalt in Mahlow zu erklären.
Ja, auf Wunsch der Gemeinde soll der Gedenktag künftig nicht allein Noel Martin gewidmet sein, sondern als Tag für Vielfalt und Toleranz zelebriert werden – zur Erinnerung an alle Opfer rechtsextremer Gewalt. Die Idee der breiteren Ausrichtung haben wir natürlich besprochen.

Herr Martin, wie fühlt sich das an?
Wissen Sie, mein Leben wurde mir genommen. Dann starb meine Frau, später auch eine enge Freundin in Deutschland. Ich schätze eine solche Initiative, und zwar zugunsten der jungen Leute, die ihre Zukunft noch vor sich haben. Ich selbst fühle mich wie ein Opferlamm, aber wenn auf diese Weise im Schlechten etwas Gutes liegt, befürworte ich das.

Noel Martin, Sie wurden wegen Ihrer Hautfarbe attackiert. Wie betrachten Sie heute die Lage der Flüchtlinge aus Afrika?
Früher gingen die Europäer nach Afrika, um Menschen und Land auszubeuten. Jede Handlung zieht eine andere nach sich. Nun geht die Bewegung andersherum. Die Menschen suchen wegen der Lage in ihren Ländern einen Ort, den sie aufsuchen können. Wir sollten sie nicht mit negativen Gefühlen begrüßen, sonst fühlen sie sich abgelehnt und das hat erneute Folgen. Jeder, der Heimat und Familie verliert, hat auch, wenn er materiell abgesichert ist, das Wichtigste im Leben verloren.

Michael Ferguson, was ist am Freitag geplant, was braucht die Stiftung?
Die Veranstaltung am 16. Juni um 18 Uhr am Mahnmal im Glasower Damm in Mahlow wird von der Amadeu-Antonio-Stiftung unterstützt. Danach gibt es in der gegenüberliegenden Grundschule Klezmermusik von der Band KlezFez. Ich verrate das mal: Worüber sich Noel auf jeden Fall freut, sind Post-Grüße von Menschen, die an ihn und sein Schicksal denken, wie neulich eine Grundschulklasse aus Berlin.

Und er freut er sich über Spenden für seine Stiftung. Damit wird die Begegnung junger Menschen aus Deutschland und England unterstützt – mit dem Ziel, dass sich Jugendliche in ihrem Alltag für Toleranz, für Demokratie und gegen Rassismus einsetzen.

Noel, wenn es die Chance gäbe, dank Spenden mit einem Spezialflug nach Mahlow zu kommen...?
Das hatte ich mal vor, aber es ist schwer. Die Herausforderung nähme ich an.

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