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Am 4. November 1968 demonstrierten Studenten in Charlottenburg gegen ein damals drohendes Berufsverbot für Horst Mahler.

© Chris Hoffmann/picture-alliance/dpa

1968 im Tagesspiegel: Die Schlacht von Charlottenburg

Vor 50 Jahren eskalierte am Tegeler Weg die Gewalt – eine Wende in der Geschichte der 68er. Im Zentrum: Ein Mann, der heute ganz rechts außen steht.

Das dramatische Jahr 1968 endete schon am 4. November – mit einer bis dahin in West-Berlin unvorstellbaren Straßenschlacht in Charlottenburg. „Wer will, dass die studentische Bewegung zerfallen wird, der soll weiter solche Aktion machen“, sagte der Theologe Helmut Gollwitzer anderntags auf einer SDS-Veranstaltung im Audimax der Freien Universität.

Was war geschehen? Dem damals 32-jährigen Horst Mahler, prominentester „Linksanwalt“ der Studentenbewegung, drohte der Entzug seiner Anwaltszulassung, da er auf Grund einer Klage des Springer-Konzerns zu einer Zahlung von mehr als einer halben Million D-Mark verurteilt worden war. Der Springer-Verlag hatte sich Mahler stellvertretend für tausende Demonstranten herausgepickt, nachdem bei einer spontanen Demo am Gründonnerstag 1968 etliche Auslieferungsfahrzeuge des Verlags in Flammen aufgegangen waren. Die Studenten waren von der TU zum Springer-Hochhaus marschiert, weil sie den Konzern für das Attentat auf Rudi Dutschke wenige Stunden zuvor verantwortlich machten.

Bauhelme und Farbeier für Mahler

Das Anzünden der Fahrzeuge konnte Mahler natürlich nicht nachgewiesen werden. Tatsächlich war es der Berliner Verfassungsschutz, der die Molotowcocktails zum Springer-Hochhaus geliefert hatte. Der für den Verfassungsschutz verantwortliche Politiker, der damalige Innensenator Kurt Neubauer, sah der Eskalation vom Dach des Springerhauses aus zu.

Das Ehrengerichtsverfahren gegen Horst Mahler am 4. November 1968 sollte um 8.30 Uhr beginnen. Gegen 8 Uhr versammelten sich rund 1000 Studenten auf dem Mierendorffplatz. Es wurden Bauhelme verteilt. Viele Studenten hatten Taschen bei sich, in denen man zumindest Farbeier vermuten darf, da später viele Farbspuren auf den Einsatzfahrzeugen der Polizei zu sehen waren. 400 Beamte standen bereit.

Nachdem ein mit Steinen beladener LKW samt Anhänger von drei Polizeibeamten in Richtung der Demonstranten umgeleitet, von diesen angehalten und entladen wurde, eskalierte die Situation vollends. Polizisten sahen sich einem nie da gewesenen Steinhagel ausgesetzt, wobei die Tschakos, Kopfbedeckungen aus Plastik und Leder, keinerlei Schutz boten. Die Polizei zählte am Mittag, als alles vorbei war, 130 Verletzte in den eigenen Reihen. Zehn von ihnen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Bei den Demonstranten gab es wesentlich weniger Verletzte.

Zufälliges Manöver durch die Menschenmenge

Auf Seiten der Polizei war man über den Verlauf des Einsatzes geteilter Meinung. Bemängelt wurden die schlechte Ausrüstung und unsichere Funkstrecken. Nach der Eskalation ging ein polizeiinterner, aber anonymer Anruf bei dem hohen Polizeibeamten der Schutzpolizei Hackbarth ein: „Den Behrens müßte man aufhängen, denn er hat die verletzten Kollegen auf dem Gewissen!“ Ewald Behrens, mit Karl-Heinz Kurras befreundet, war Ausbilder der Berliner Polizei und hatte am 2. Juni 1967 wesentlich zur Schaffung der Situation beigetragen, in der dann Kurras Benno Ohnesorg erschossen hatte.

Der Fahrer des mit Steinen beladenen LKW, Egon H., beschwerte sich zwei Wochen später bei der Polizei, dass drei Polizeibeamte ihn nicht durch den Tegeler Weg hatten fahren lassen, sondern ihn „direkt in die randalierende Menschenmenge hineinmanövriert“ hätten.

Dazu heißt es in einer internen Auswertung der Berliner Polizei: „Ermittlungen haben ergeben, das ein unbekannt gebliebener Lkw mit Anhänger kurz vor dem ersten Ansturm der Demonstranten voll beladen mit Steinen in der Osnabrücker Str./Kamminer Str. hielt und die Steine auf die Fahrbahn entlud. Es hatte den Anschein, dass dieser Vorgang abgesprochen war, um die Demonstranten mit Wurfgeschossen zu versorgen. Spätere Ermittlungen ergaben, daß es ein Zufall war.“ Die zitierte Aussage des Fahrers und eine Anzeige seines Chefs, der Schadenersatz wegen der Farbeier, die seinen LKW getroffen hatten, verlangte, belegen, dass der LKW keinesfalls „unbekannt geblieben“ ist.

Veteranen nennen es das Ende von "68"

Bis heute wollen die Gerüchte nicht verstummen, dass es sich nicht um einen Zufall, sondern um eine weitere Provokation des Verfassungsschutzes gehandelt habe, die ähnlich den Brandsätzen am Springer-Hochhaus die Demonstranten zu noch aggressiverem Verhalten anstacheln sollte. Beweisen lässt sich das nicht, und es entschuldigt auch nicht die besondere Aggressivität der Demonstranten an diesem Tag.

Spricht man mit Veteranen der 68er Bewegung, bekommt man fast durchweg Aussagen, dass diese Straßenschlacht ein Umschlagpunkt war, ein Pyrrhussieg, eine Niederlage, das Ende von „1968“. Bestätigt wird dies auch aus anderer Sicht: „Ein polizeilicher Misserfolg ist nicht deshalb eingetreten, weil zahlreiche Beamte verletzt worden sind, sondern der Erfolg der polizeilichen Maßnahmen ist gerade darin zu sehen, dass das polizeiliche Ziel voll erreicht worden ist, obwohl 130 Pol-Beamte hierbei verletzt worden sind“, heißt es in einer polizeiinternen Auswertung.

Und weiter: „Noch in anderer Hinsicht ist ein bemerkenswerter Erfolg zu verzeichnen. Die Polizei befindet sich nach diesem Geschehen im Urteil der Öffentlichkeit in einer äußerst günstigen Position. Von keiner Seite wurde bisher auch nur der leiseste Vorwurf gegen das Vorgehen der Polizei erhoben. Im Gegenteil! Wie nie zuvor zeigen weite Kreise der Bevölkerung großes Verständnis für die schweren Aufgaben der Polizei. (…) Demgegenüber haben sich die Akteure der APO (Außerparlamentarische Opposition, d. Red) und deren Anhänger mit ihrem Verhalten am 4.11.1968 vor dem Landgericht in den Augen einer breiten Öffentlichkeit einhellig ins Unrecht gesetzt. (…) Andererseits dürfte dem Solidarisierungsprozess innerhalb der Berliner Studentenschaft zumindest für die nahe Zukunft ein wirksamer Schlag versetzt worden sein. Selbst jene intellektuellen Besserwisser, die keine Gelegenheit versäumen, sich mit spitzer Feder kritisch über das Vorgehen der Polizei auszulassen, sind über das Verhalten der APO-Anhänger schockiert und verharren in betretenem Schweigen.“ Diese Sätze, aufgefunden im Staub des Aktenkellers der Berliner Polizei – klingen sie nicht so, als habe man genau das gewollt?

Mahler wurde NPD-Mitglied

Horst Mahler durfte seine Anwaltslizenz behalten – noch. Als führendes Mitglied der RAF wurde er schon im Oktober 1970 verhaftet und zu 14 Jahren Haft verurteilt. 1987 erstritt der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Bundesgerichtshof die erneute Zulassung und Mahler eröffnete eine Kanzlei in der Paulsborner Straße in Wilmersdorf.

In den neunziger Jahren begann Mahlers Hinwendung zur rechten Szene, er wurde NPD-Mitglied und vertrat die Partei im Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Nach einer Reihe von Verurteilungen wegen Volksverhetzung, Zeigen des Hitlergrußes und Leugnung des Holocausts entzog ihm die Berliner Anwaltskammer 2009 erneut die Anwaltslizenz.

Uwe Soukup ist Journalist und Buchautor („Der 2. Juni 1967. Ein Schuss, der die Republik veränderte“)

Uwe Soukup

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