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Aus dem Ruder gelaufen: Der 1. Mai in Berlin.

© Christoph Soeder/dpa

1. Mai und Mietenwahnsinn in Berlin: Drei Gründe für die Eskalation in Neukölln

Der kurze Kontrollverlust am 1. Mai zeigt: In der Debatte um Mietenwahnsinn darf es kein Paktieren mit Gewalttätern und Israelhassern geben. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Alexander Fröhlich

Es hätte gut werden können an diesem 1. Mai in Berlin. Die neue soziale Frage – der bezahlbare Wohnraum – bewegt die Stadt. Und 10.000 Teilnehmer einer Fahrraddemonstration zum Grunewald haben gezeigt, wie friedlicher Protest geht: mit Abstand, Maske, klimafreundlich.

Ihr Anliegen war vielleicht schlicht: Villenbewohnern Wohlstand vorwerfen, sie verantwortlich machen für hohe Mieten, Enteignungsfantasien skandieren. Aber der Versammlungsfreiheit sei Dank darf jede und jeder seine Meinung kundtun. Und das auch während der Corona-Pandemie.

Bei der abendlichen „Revolutionären 1. Mai-Demonstration“ war es anders. Auch hier kamen Tausende wegen des Mietenthemas auf die Straße. Es wurde zu voll zum Abstandhalten. Dass die Demonstration am Ende nicht zum Desaster, aber zumindest zum teils gewaltsamen Flop wurde, hat mehrere Gründe.

Der erste: An der Spitze des Zuges durften Radikale offen antiisraelische und antisemitische Hasschöre anstimmen, als wäre es der Al-Quds-Marsch. Damit hat die linke Demonstration den antifaschistischen Konsens der Bundesrepublik verlassen. Wer im Ringen für bezahlbaren Wohnraum mit derlei Gruppen kooperiert, kann kein Gesprächspartner sein.

Der zweite: die Berliner Polizei. Ihr Ruf als entschlossenste, taktisch schlaueste Truppe, wozu auch Zurückhaltung im richtigen Moment gehört, hatte schon vorher Schrammen bekommen, als im August 2020 Reichsbürger die Treppen des Reichstags emporrannten.

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Am Samstagabend erschloss sich nicht, wieso die Demonstrationsroute in Neukölln auf einer durch eine Baustelle verengten Straße lag, und die Polizei genau dort einen Block aus dem Aufzug ausschloss. Wenn es um Corona-Abstände ging, warum hat die Polizei nicht früher oder später reagiert - jedenfalls an einer Stelle mit mehr Platz, wo keine Baustellenzäune herumgeworfen werden können?

Und drittens: mindestens 93 verletzte Polizistinnen und Polizisten. Allein vier Fünftel von ihnen traf es bei der Demonstration am Abend. Dazu brennende Müllcontainer und Paletten, Stein- und Flaschenhagel von Autonomen und „erlebnisorientierten“ Krawalltouristen auf Beamte.

Es mussten erst einmal Einheiten zum Schauplatz beordert werden, um die Lage in den Griff zu bekommen. Dazu 354 Festnahmen, 40 Personen sollen dem Haftrichter vorgeführt werden.

Die Zahlen reichen heran an die letzten großen Maikrawalle vor elf, zwölf Jahren, aber nicht an die Randale in den 80ern und 90ern. Was am Abend des 1. Mai in Neukölln geschah, hat Berlin lange nicht gesehen. Es war ein – wenn auch nur kurzer – Moment des Kontrollverlustes.

[Zum Nachlesen und nachschauen, was in Berlin alles geschah – der Tagesspiegel-Liveblog vom 1. Mai und die besten Fotos vom Tage.]

Ausgerechnet in jenem Stadtviertel, in dem sich die sozialen Verwerfungen der Stadt zeigen und das von Umverteilungsideen womöglich profitieren würde, flogen Steine für den Kampf gegen das Kapital. Das gehört zu den ideologischen Verrenkungen der linksautonomen Szene. Revolutionär ist es nicht.

Auch nach dem Scheitern des Mietendeckels erfährt Berlin breiten Zuspruch für die Idee von der Enteignung großer Wohnkonzerne, für Umverteilung, für staatliche Eingriffe in den Markt.

Ob derlei sozialistische Kollektivierungsträume umsetzbar sind, steht auf einem anderen Blatt. Wer aber eine offene Debatte darüber führen und ernst genommen werden will, darf sich mit politischer Gewalt nicht zusammentun.

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