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Die Bewohner der Rigaer Straße 94 beschäftigen seit mehr als 20 Jahren die Berliner Politik.

© imago/Christian Mang

Berlin-Friedrichshain: Haben es die Autonomen aus der Rigaer 94 übertrieben?

Sie marschieren in die Berliner Justizverwaltung, bedrohen einen Beamten, entkommen unerkannt. In der Rigaer Straße nennen sie es „Denkhilfe“. Andere sagen: „Das ist Terrorismus“.

Von den Fenstern hängen schwarze Fahnen, die Haustüren sind mit Polit-Aufklebern überzogen, an vielen Wänden in der Rigaer Straße kleben Plakate, die zu Demonstrationen aufrufen. Freiheit für die Gefangenen, Kampf den Spekulanten, nieder mit dem Polizeistaat. An diesem Morgen ist die Straße in Friedrichshain fast leer. Die Bewohner des in den Neunzigerjahren besetzen Hauses, das in Berlins Innenpolitik für massiven Streit sorgt, äußern sich ungern öffentlich. Kontaktversuche bleiben in diesen Tagen: Versuche.

Im Viertel selbst, beim Bäcker, vor der Kita, am Altenheim aber reden sie an diesem Donnerstag vor allem über die Zumutungen der Rigaer Straße. Die einen scheinen nur noch zu wollen, dass die einstigen Hausbesetzer den Kiez verlassen. Dass es ruhiger wird, keine Demos, kein Punkrock, kein Blaulicht. Die anderen machen für den Krawall im Kiez die Polizei verantwortlich. In der Bäckerei sagt die Chefin: Der Kiez sei gespalten. Fifty-Fifty.

Seit Jahren schlägt sich die Berliner Landespolitik mit der Rigaer Straße 94 herum. Es gab Randale, Gewalt, riesige Polizeieinsätze, auch illegale. Erst versuchte es der frühere Innensenator Frank Henkel (CDU) mit harter Hand – und scheiterte. Rot-Rot-Grün probiert es auf die sanftere Tour. Die Gewalt, für die Linksautonomen legitime Praxis gegen einen kapitalistischen, angeblichen repressiven Staat, stoppt das nicht.

Im Viertel wachsen Sorge und Wut

Jetzt aber könnten die Linksextremen überzogen haben. In dieser Woche wurde bekannt, dass sie Nachbarn bedrohen, ein Kiezgericht einberufen haben. In der Senatsjustizverwaltung haben sie einen Spitzenbeamten bedroht – in dessen Dienstbüro.

Nach dieser Woche also, das fürchten vermutlich auch die Männer und Frauen in den Hausprojekten, dürfte der Druck auf die einst besetzen Häuser steigen. Und im Viertel wachsen Sorge und Wut.

Justizsenator Dirk Behrendt ist ein Grüner, ihm gelingt in diesen Tagen vorerst beides: den Vorfall ernstzunehmen, aber nicht zu ernst. Die Justizverwaltung erstattet lediglich Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Dagegen sagt Tom Schreiber, Innenexperte des Koalitionspartners SPD: „Das ist Terrorismus!“ Die oppositionelle CDU sieht das ähnlich. Sie verlangt, in der ersten Sitzung des Innenausschusses nach der Sommerpause über die Hausbesetzer aus der Rigaer Straße zu sprechen. Wieder mal.
„Wenn die Leute aus der Rigaer Straße ein Problem mit dem Strafvollzug haben, bin ich der Ansprechpartner“, sagt Behrendt am Donnerstag. Allmählich wird es für den Senat schwierig, nicht durchzugreifen. Aus der SPD-geführten Innenverwaltung heißt es: „Hier werden rote Linien überschritten.“ Das Einzelpersonen bedroht würden, befürworte nicht mal jeder in der linken Szene – es seien im Friedrichshainer Nordkiez um die Rigaer Straße „Isolierungstendenzen“ zu beobachten. Das war noch vor wenigen Jahren anders. Die Aktivisten haben mit ihren Exzessen viel Sympathie in einem traditionell linken Viertel verspielt.

Sie nennen es einen Racheakt

Dienstag: Zehn bis 15 junge Männer und Frauen marschieren in die Senatsjustizverwaltung in Schöneberg. Hinein in den Kolossalbau, Marmorboden, Flügeltüren, errichtet 1914 als Europas modernstes Bürohaus. Sie suchen einen Beamten. In welchem Büro er sitzt, sagt ihnen der Pförtner. Sie klopfen, der Mann öffnet. Was die Eindringlinge ihm sagen, soll er wohl als Bedrohung verstehen – der genaue Wortlaut ist nicht bekannt. Der Mann ist nicht irgendwer. Er war Verwaltungsrichter und ist Vize-Leiter der Abteilung für Strafvollzug. Die Truppe, die ihn bedroht, nennt sich „Soli für Isa und Nero“. Isa und Nero sind die neuen Märtyrer der Szene in der Rigaer Straße – Nero sitzt im Gefängnis, Isa war mehrere Monate in Untersuchungshaft. Als „Rache für Nero“ ist bereits das Auto einer JVA-Bediensteten in Brand gesetzt worden, die in Friedrichshain wohnt und nach dem Anschlag zeitweise unter Polizeischutz stand.

Als der Trupp aus der Rigaer am Dienstag in der Justizverwaltung steht, ruft irgendwer die Polizei. Die kommt zu spät, die Männer und Frauen sind schon weg, identifiziert werden kann niemand. In einem Bekennerschreiben bezeichnen die Autonomen ihren Besuch als „Denkhilfe: Wenn Sie weitere Sanktionen gegen Nero und andere Gefangene anordnen möchten, die Anonymität einer Behördentätigkeit hat Grenzen“.

Nachbarn werden zum Kiezgericht zitiert

Bereits im März waren Nachbarn der Rigaer Straße in einen Kleinkrieg geraten, weil sie für einen Verletzten auf dem Gehweg die Polizei alarmiert hatten. Von ihrem Balkon aus hatten sie beobachtet, wie er von einem Mann zu Boden gerissen, geschlagen und gewürgt worden war. Während sie bei dem Opfer ausharrten, sollen sie vom Haus gegenüber bedroht worden sein: „Ruft nicht die Bullen! Wir wissen, wo ihr wohnt!“ Als die Sanitäter eintrafen, wurden sie umringt und beschimpft. Einige Tage danach fanden die Anwohner ein Schreiben im Briefkasten, so berichtet es die „Welt“. Es fordert sie auf, sich dem „Kiezgericht“ in der Kneipe des Besetzerhauses zu stellen.

In der Rigaer Straße fährt seit Jahren fast täglich Polizei vor, meist in Mannschaftswagen. Immer wieder Razzien, immer wieder Steinwürfe. Den Bewohnern der besetzten, inzwischen meist vollständig legalisierten Häuser ist der Staat verhasst. Sie sind kompromissloser als das in Antifa-Gruppen und Sozialistenzirkeln üblich ist. Angriffe auf Polizisten, Mitarbeiter des Senats, ja der Bezirke – in der Rigaer halten sie das für gerechtfertigt.

In den Häusern leben vielleicht noch vier, fünf Dutzend Aktivisten. Sie können Hunderte Unterstützer aus ganz Berlin, ganz Deutschland mobilisieren. Nach der Wende befanden sich in der Nähe der Rigaer Straße Dutzende besetzter Häuser. Die Schlacht in der Mainzer Straße 1990 – wo Tausende Beamte mit Hubschraubern, Wasserwerfen, Räumpanzern vorgingen – hatten die Besetzer moralisch gewonnen. Selbst als 2000 Polizisten 2011 das Haus in der nahen Liebigstraße räumten, war man im Kiez noch weitgehend gut auf die Linksradikalen zu sprechen.

Früher waren viele Anwohner solidarisch

„Aber langsam wird’s zu doll“, sagt eine Nachbarin, die sich selbst für „sehr sozial eingestellt“ hält. Ähnlich äußern sich am Donnerstag ein paar Handwerker, eine junge Mutter auf dem Weg zur Kita.

Der Friedrichshainer Nordkiez hat sich in den vergangenen zehn Jahren zunehmend zu einem Familienquartier entwickelt, in dem man vegane Tartes essen, Holzspielzeug kaufen und alte Möbel aufarbeiten lassen kann. Nur in der Rigaer brennen regelmäßig Autos und Sperrmüll. Fällt der Strom aus, wird der Discounter geplündert. Gegröle, Böller und zersplitterndes Glas. Für die Militanten könnte es ein dunkler Herbst werden.

1992, nach der Schlacht um die Wohnprojekte in der Mainzer Straße, begannen die Bewohner der Rigaer 94 mit dem Hausbesitzer, der Wohnungsbaugenossenschaft Friedrichshain, zu verhandeln. Sie erhielten Mietverträge.

Als das Haus Jahre später den Besitzer wechselt, der die Verträge kündigt, weigern sich die Bewohner, auszuziehen. Die Polizei räumt, die Besetzer kommen wieder. Mit den Jahren vertieft sich der Konflikt, bald wird das Haus erneut verkauft, zunehmend werden den Bewohnern Straftaten nachgesagt. Die Polizei ermittelt immer öfter – mehr als rund um andere Hausprojekte der Szene.

Als sie die Rigaer Straße 2015 zum „kriminalitätsbelasteten Ort“ erklärt, weil es dort gehäuft zu politisch motivierten Taten kommt, ist eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Polizisten sperren häufiger den ganzen Friedrichshainer Nordkiez ab, kontrollieren Verdächtige – und auch unbescholtene Nachbarn.

Illegale Räumung unter Polizeischutz

Ausgerechnet Berlins damaliger Innensenator von der CDU, Frank Henkel, wirkt überfordert. Nachdem ein Streifenpolizist attackiert wird, stürmt ein Spezialeinsatzkommando die Rigaer Straße. Im Abgeordnetenhaus wird heftig gestritten. Im Sommer 2016 greift Henkel ein – und löst den nächsten Skandal aus: Die Räumung des Vereins „Kadterschmiede“ im Erdgeschoss des Hauses findet unter Polizeischutz statt. Doch der Hauseigentümer hatte gar kein Recht dazu – die Betreiber dürfen wieder einziehen, die Szene jubelt. Nun ist auch Senatschef Michael Müller, SPD, in der Kritik. Den „frei drehenden Innensenator“ dürfe er nicht gewähren lassen, sagen die Grünen.

Noch heute hängen in Fenstern selbstgemalte Schilder, auf denen steht: „Schluss mit dem Polizei-Terror!“ Doch im Asia-Laden und beim Tischler drei Häuser weiter ist man sich einig, dass es sich die einstigen Besetzer trotz der Debatte um preiswertes Wohnen im früheren Arbeiterkiez mit vielen verscherzt haben.

Viele der Anwohner, die in den Altbauten wohnen, haben sich dieses Quartier bewusst ausgesucht. Origineller als die Randbezirke, weniger homogen als Prenzlauer Berg, bezahlbarer als Mitte. Es gibt Feste in den bunten Häusern, zu denen alle eingeladen werden. Aber regelmäßig auch hässliche Auseinandersetzungen, denen die Bitte vorangeht, nachts leiser zu sein. „Du musst zur Arbeit? Yuppie-Schlampe, selber Schuld.“

Verprügelt, weil er den Hund streicheln wollte

Die Verhaftung des Mannes namens Nero, die die Autonomen anprangern, steht im Zusammenhang mit der umstrittenen Räumung der „Kadterschmiede“. Weil er mit einem Laserpointer die Piloten eines Polizeihubschraubers blendete, wurde er 2017 verurteilt. Bei dem damals 22-Jährigen fand die Polizei Laserpointer, Pyrotechnik und Sturmhaube. 18 Monate muss er ins Gefängnis wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr und versuchter gefährlicher Körperverletzung.

Auch Isa, 42, war polizeibekannt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm zwei Taten vor: Am 11. März dieses Jahres jenen 54 Jahre alten Mann verprügelt zu haben, für den Anwohner einen Rettungswagen riefen – der mutmaßliche Anlass: Er wollte Isas Hund streicheln. Das Opfer trug Knochenbrüche davon. Vier Tage später hat Isa laut Staatsanwaltschaft einen Polizisten mit Pfefferspray angegriffen. Die Bewohner des Hauses bestreiten den von der Polizei beschriebenen Ablauf energisch. Beide Taten geschahen vor der „Rigaer 94“. Nach beiden flüchtete der Täter in das Haus.

Das liegt am Donnerstag im Nieselregen. Ein paar Meter weiter stehen Bauarbeiter. Einer sagt: „Eigentlich is it doch eenfach. Hausbesetzen is jut, wenn es auf dem Wohnungsmarkt unfair ist.“ Die Rigaer 94 hat es wohl übertrieben.

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