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Aufgetaucht. Bis vor einem Jahr kann niemand in Stuttgart Marian Schreier.

© Imago/Arnulf Hettrich

Beginnt die Revolution in Stuttgart?: Ein Newcomer macht vor, wie man künftig Wahlen gewinnt

Es wäre eine Sensation: Marian Schreier könnte am Sonntag Stuttgarts neuer Oberbürgermeister werden. Sein Trick: Wahlkampf aussehen lassen wie eine Bewegung.

An einem grauen Novembermorgen steht Marian Schreier auf dem kleinen, fast dörflichen „Platz vor dem Alten Haus“ in Stuttgart-Hedelfingen und versucht, die Revolution zu entfachen. Es ist Donnerstag, Markttag. Marian Schreier macht Wahlkampf. Und zwar so klassisch, wie es nur geht, zwischen Ständen mit Käse, Gemüse und Biobrezeln. Einerseits.

Gleichzeitig aber auch so modern, wie Wahlkämpfe im Lokalen sonst nie sind: mit Livestreams und Instagram-Posts, für Follower und Journalisten, die über seine Kampagne berichten. Bei Instagram ist zu sehen, wie Schreier – weiße Sneaker, grauer Schal, dunkelblauer Trenchcoat, türkise Corona-Maske – das betreibt, was im Kampagnensprech „Canvassing“ heißt und auf Schwäbisch: a Schwätzle halta. Also: ins Gespräch kommen.

Marian Schreier, Oberbürgermeisterkandidat in Stuttgart, Sozialdemokrat, Jahrgang 1990, führt einen Wahlkampf, der als reine Formsache begann und nun tatsächlich zu einer Reihe kleinerer Revolutionen geführt hat. Nicht nur, weil er noch so jung ist. Nicht nur, weil er als krasser Außenseiter startete und nun nach dem ersten Wahlgang als einer der verbliebenen drei Kandidaten noch im Rennen ist.

Sondern auch, weil die Strategie seiner Kampagne ein Blick in die Zukunft ist, eine Blaupause, die in Parteizentralen ebenso diskutiert werden wird wie in Seminaren zum Zustand der Demokratie. Und zwar unabhängig davon, ob Schreier am Sonntag die Stichwahl gewinnt.

„Wahlkampf kann der Junge“, hieß in der „Zeit“

Vor einem Jahr nämlich hatte niemand in Stuttgart Marian Schreier auf dem Zettel. Woher auch? Schreier ist in Stuttgart geboren und aufgewachsen, studierte dann aber in Konstanz und Oxford Verwaltung und Public Policy, arbeitete zwei Jahre für Peer Steinbrück im Bundestag und ist derzeit noch Bürgermeister der 4600-Seelen-Gemeinde Tengen im badischen Hegau, 140 Kilometer südwestlich von Stuttgart.

Schon das: eine Ansage. „Wahlkampf kann der Junge“, hatte die Wochenzeitung „Zeit“ geschrieben, als Schreier 2015 in Tengen zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gewählt wurde.

Marian Schreier ist bereits der jüngste Bürgermeister Deutschlands - in der 4600-Seelen-Gemeinde Tengen.
Marian Schreier ist bereits der jüngste Bürgermeister Deutschlands - in der 4600-Seelen-Gemeinde Tengen.

© Tom Weller/dpa

Jetzt aber ist das politische Stuttgart in heller Aufregung. Denn Schreier tritt als unabhängiger Einzelkandidat an, gegen den ausdrücklichen Willen seiner eigenen Partei, mit dem provozierenden Slogan: „Der Junge kann das“. Im ersten Wahlgang im Oktober lässt er den offiziellen SPD-Kandidaten Martin Körner genauso hinter sich wie Hannes Rockenbauch, den seit mehr als zehn Jahren lokalpolitisch engagierten Kandidaten der Anti-Stuttgart21-Partei SÖS.

Schreier weigert sich nach dem ersten Wahlgang, zugunsten eines gemeinsamen linken Kandidaten zurückzuziehen. Und zwingt damit Veronika Kienzle von den Grünen, die den grünen Amtsinhaber Fritz Kuhn nach acht Jahren im Amt eigentlich hatte beerben sollen, zur Aufgabe. Und das, obwohl die baden-württembergische SPD in aktuellen Umfragen nur bei elf Prozent liegt und Stuttgart als Hochburg der Grünen gilt.

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Gegen 10.30 Uhr ist genug geschwätzt in Hedelfingen und Marian Schreier steigt in einen Mercedes Benz C-Klasse Kombi. Er hat Zeit für ein Gespräch mit dem Tagesspiegel, aus der Ferne, per Facetime.

„Stuttgart ist meine Heimatstadt“, sagt Schreier. „Und da entwickelt man ein gewisses Gefühl für eine Stadt – und das Gefühl war: Es bewegt sich zu wenig.“ Ein Problem für Stuttgart, aber eine Chance für Schreier. Die Entscheidung zu kandidieren aber sei, ganz klar, keine Schnapsidee gewesen. Und, trotz allem Lokalpatriotismus, auch eher unemotional. „Das war ein Prozess von Wochen und Monaten“ sagt Schreier. Die entscheidende Frage sei immer gewesen: „Kann es einen sinnvollen Pfad geben?“

Alles nur eine Frage von Analytik und Arithmetik

So wie Schreier seinen Pfad erklärt, sind die Politik, die er für Stuttgart vorhat und auch sein Wahlkampf, eigentlich nur eine Frage von Analytik und Arithmetik. Bei der Frage bezahlbarer Mieten etwa, sagt er, habe Stuttgart München bereits überholt. „Und da kann man politisch schon Weichen stellen.“

Frank Nopper von der CDU lag im ersten Wahlgang vorne, Marian Schreier fordert ihn bei der Stichwahl heraus.
Frank Nopper von der CDU lag im ersten Wahlgang vorne, Marian Schreier fordert ihn bei der Stichwahl heraus.

© Bernd Weißbrod/dpa

Mittlerweile ist Schreier in seinem Wahlkampfbüro in der Eberhardstraße angekommen, in einem Co-Working-Space zwischen Tagblatt-Turm und Rotebühlplatz, im Herzen der Stadt. Der Tag ist streng durchgetaktet und auf Öffentlichkeitswirksamkeit hin optimiert: Gegen Mittag kommt erst Tim Bengel, ein regionaler Künstler mit 318.000 Instagram-Followern, und bringt veganes Essen aus seinem neuen Lokal vorbei, das er gemeinsam mit dem Ex-VfB-Stuttgart-Torhüter Timo Hildebrandt betreibt.

Dann wartet der Deutschlandfunk, danach ist wieder Straßenwahlkampf am Feuersee und in Stuttgart-Ost, hinterher steht Schreier bei der Volkshochschule auf der Bühne. Am Abend, deutet Schreiers Wahlkampfleiter an, ist noch ein digitaler Auftritt geplant.

Vier Strategien zum Erfolg

Doch der Trick an Marian Schreiers Wahlkampf ist nicht allein der Fleiß, es sind auch nicht die cleveren Onlinevideos oder seine Souveränität im Umgang mit Kritikern. Sondern dass Schreier vier wichtige Punkte verstanden hat.

Erstens: den Lokalwahlkampf trotz aller Digitalität ernst nehmen – nichts ersetzt den persönlichen Auftritt.

Zweitens: die Wählerschaft in den Nischen ausloten. In Stuttgart dürfen nicht nur EU-Ausländer wählen, was Schreier durch Whatsapp-Videos auf Türkisch, Griechisch, Kroatisch und sieben weiteren Sprachen zu nutzen versucht. Zum ersten Mal dürfen in Stuttgart auch Jugendliche ab 16 abstimmen.

Die Kontakte des Vaters helfen

Drittens: die Alten nicht vergessen. Schreiers Bonus in dieser Hinsicht: Sein Vater ist Dirigent, emeritierter Professor einer Musikhochschule, ehemaliger Kantor der Stuttgarter Stiftskirche. Und hat beste Kontakte zur Kunst-, Kultur- und Kirchenwelt der Stadt.

Viertens: der Stadt ihren Stolz wiedergeben. Stuttgart hat einen verheerenden Ruf. Der Rapper Afrob nannte Stuttgart einst die Stadt von „Geld und Autos und von CDU-Wählern“, in den letzten Jahren kamen dazu der Streit um Stuttgart21, Staus und Feinstaub. Schreier kann Stuttgart nun das Gefühl geben: Wenn ihr mich wählt, dann seid ihr alle ein bisschen wie ich: jung, mutig, dreist, erfolgreich.

Fritz Kuhn war acht Jahre lang Chef im Stuttgarter Rathaus.
Fritz Kuhn war acht Jahre lang Chef im Stuttgarter Rathaus.

© Marijan Murat

Mit diesen Elementen haben Schreier und seine Kampagne etwas geschafft, das in Deutschland seit Gerhard Schröder niemandem mehr gelungen ist: Aufbruchsgeist durch einen Populismus der progressiven Mitte zu erzeugen.

Die eigentliche Geheimwaffe in Schreiers Wahlkampf ist aber die Narration, wie es im Kampagnensprech heißt: das Bohei um den Kandidaten selbst.

Knapp 210 Kilometer südlich, in der Bürglistraße 17 in Zürich, residiert die Agentur, die den Wahlkampf für Schreier konzipiert hat: Rod Kommunikation. Gründungsmitglieder der Agentur machten sich in der Schweiz vor allem mit Kampagnen gegen den Rechtsruck im Land einen Namen, bei mehreren von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei angezettelten Volksabstimmungen konnten sie wichtige Siege erringen.

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Einer von ihnen, der Schweizer David Schärer, den die konservative „Weltwoche“ eine „Koryphäe der Konzepte“ und „Schweizer Meister im Generieren von Aufmerksamkeit“ nannte, ist für den Wahlkampf von Marian Schreier verantwortlich. „Uns war klar: Wir müssen alles anders machen“, erklärt Schärer am Telefon und meint damit klassische Oberbürgermeisterwahlkämpfe. Die Kampagne sollte wirken wie „ein Referendum für die Beendigung des Stillstands“.

Schärer gelang es, Schreiers Defizite in Vorteile zu verwandeln. Der unbekannte Kandidat als perfekte Projektionsfläche. Das selbstbewusste Auftreten der Kampagne als eigene Geschichte. Die Jugendlichkeit des Kandidaten und die noch jüngeren Erstwähler. Die Ablehnung der SPD, die Schreier geradezu in die Rolle des Rebellen drängte. „Ich habe damals gesagt, dass ich der Überzeugung bin: In Stuttgart liegt was in der Luft“, erklärt Schärer.

Letztendlich ist ihm der ganz große Trick gelungen, die Königsdisziplin politischer Kommunikation: einen Wahlkampf aussehen zu lassen wie eine Bewegung.

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Zunächst ließen Schreier und Schärer eine Reihe von Hochglanzvideos produzieren. Etwa einen mit Hip-Hop-Beats unterlegten Wahlspot, in dem Schreier seine Kandidatur und die Entscheidung der Stuttgarter auf einem Zehn-Meter-Brett eines Freibads stehend zu einer Art Mutprobe stilisiert. Gefilmt hat den Spot Regisseur Zoran Bihać, der schon die Musikvideos zu „A.N.N.A.“ von Freundeskreis und zu „M.f.G.“ von den Fantastischen Vier drehte.

Und der Trick funktioniert tatsächlich. Schreier kommt als drittplatzierter Kandidat aus dem ersten Wahlgang, übersteht die anschließenden Grabenkämpfe und kann beim letzten öffentlichen Duell der verbliebenen Kandidaten nicht nur alle Kritik souverän kontern, sondern auch noch eigene Punkte machen. Plötzlich sieht CDU-Kandidat Frank Nopper, fast 30 Jahre älter als Schreier, noch älter aus.

Er wird nach seiner liebsten Pommessauce gefragt

Später am Abend wird Schreier noch einmal zu einem Schwätzle laden, diesmal auf seinem Instagram-Kanal @marians1990. Also lümmelt Schreier in einem grob karierten Anzug vor einer leeren Wand, starrt etwas müde auf seinen Laptop, nippt an einem Lammbräu alkoholfrei. Um kurz nach halb neun schauen bereits 225 Menschen zu, dann steigt die Zahl auf mehr als 270, stabilisiert sich.

Rechts schwirren Herzchen über den Bildschirm, in der Mitte laufen die Fragen ein. Schreier erklärt: „Ich mache das hier übrigens nicht nur im Wahlkampf, sondern auch später als Bürgermeister. Also, soweit ich gewählt werde.“ In der folgenden Dreiviertelstunde plädiert er für mehr Stadtgrün und Wasser in Stuttgart und lobt Kopenhagen als Vorbild in Sachen Radverkehr.

Dann gibt Schreier seine liebsten Urlaubsziele preis (die Berge, den Bodensee), ebenso wie seine liebsten Orte in Stuttgart (den Hölderlinplatz), seine liebste Pommessauce (rotweiß) und den Inhalt seines Kühlschranks (Käse und Bier, dazu eine Packung Toast).

Die Parteien in Deutschland sind überaltert

So banal die Fragen sind, so lümmelig der Kandidat wirkt: Am Ende werden über 1700 Menschen zugesehen haben, beachtlich für einen Kommunalwahlkampf. Mehrmals hat Schreier die Mailadresse genannt, bei der man sich melden soll, wenn man noch Flyer für ihn verteilen will. Dass er SPD-Mitglied ist? Spielt bei alldem überhaupt keine Rolle mehr.

In Europa und der ganzen westlichen Welt findet seit einigen Jahren ein fundamentaler Niedergang der traditionellen Parteien statt. Er beginnt damit, dass alle Parteien in Deutschland im Grunde Vereine älterer Menschen sind. CDU-Mitglieder sind im Durchschnitt 61 Jahre alt, SPD-Mitglieder 60. Nur die Grünen unterschreiten die 50-Jahre-Marke knapp.

Hinzu kommt, dass digitale Kampagnen längst nicht nur mehr Kontakte zu Wählern ermöglichen, sondern durch Crowdfunding auch Einnahmen versprechen. Parteien werden damit für Wahlsiege weniger relevant, die Wichtigkeit der Kandidaten steigt – wie auch bei Emmanuel Macron in Frankreich. Die Zeit der blassen Kandidaten mit dem richtigen Parteibuch neigt sich dem Ende entgegen.

Die Chance, dass es am Ende für Schreier in Stuttgart reicht, dürfte bei 50/50 liegen. Die Chance aber, dass sich das Prinzip Marian Schreier in den nächsten Jahren in immer mehr Wahlen durchsetzt, ob in Tengen, Stuttgart oder Berlin, die liegt nochmals deutlich höher. Die Revolution, sie beginnt in Stuttgart-Hedelfingen.

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