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Der Innenraum der Dorfkirche von Briest - nur zwei Autostunden von Berlin entfernt

© Kitty Kleist-Heinrich

Auszeit auf dem Land: Schlafen wie Gott in Brandenburg an der Havel

Urlaub im Kirchenschiff, Arbeiten in klösterlicher Stille, Auszeit auf dem Land - all das geht in der umgebauten Dorfkirche von Briest

Dort wo früher der Altar war, steht jetzt ein Doppelbett, darüber hängt eine Diskokugel vom Deckengewölbe. Im Kirchenschiff stehen statt hölzerner Bankreihen ein paar Tische und Kommoden. Es herrscht Leere. Man könne hier prima Federball spielen, sagt Juliane Beer, blonder Zopf, blauer Strickpulli, weite Pumphose. Beer gehört diese alte Kirche, die offiziell keine Kirche mehr ist, sondern „Havelprater“ heißt und zu den beliebtesten Unterkünften und Co-Working Spaces Deutschlands gehört. Obwohl sie im tiefsten Brandenburg liegt, in Havelsee bei Briest, fast zwei Autostunden von Berlin entfernt.

Beer gibt eine kleine Führung durch die einst geweihte Bleibe: Auf der Empore befinden sich weitere Bettstellen, darunter die sehr sparsam ausgestattete Küche mit Gas-Campingkocher und kleiner Sitzecke. Überhaupt ist die Einrichtung des Havelpraters immer noch von protestantischer Kargheit. Mit Absicht, denn wer sich hier einmietet, darf sich auf fast klösterliche Einsamkeit ohne Ablenkung freuen. Auch ohne Internet. Völlig inakzeptable Arbeitsbedingungen für den urbanen Wanderarbeiter, sollte man meinen - wenn Beer nicht für jede Buchung im Schnitt sieben anderen Interessenten absagen müsste.

"Von dem Geld, was ich bisher in die Kirche gesteckt habe, könnte ich zwei Porsche fahren"

Co-Working ist in Berlin schon lange ein Trend, geteilte Büros und Ideen gelten als Rezept für gebündelte Kreativität. Co-Working in Brandenburg ist nun der nächste logische Schritt. Raus aus dem Hamsterrad, ab ins Grüne, wo man nicht mehr rund um die Uhr erreichbar sein muss. Ganz zu schweigen vom täglichen Lärm- und Verkehrspegel und den ständig steigenden Metropolen-Mieten. Brandenburg lockt mit Ruhe und Fokus.

Der Wilde Osten - das ist natürlich auch ein Pioniergedanke, das letzte Abenteuer des Freelancers, der Kreuzberg, Neukölln und den Speckgürtel bereits erobert hat. Manche Co-Worker verlegen gleich ihren Wohnsitz hinaus aufs Land, andere pendeln für ihre Projekte. Gern in stillgelegte Produktionsstätten oder Bahnstationen, auf wiederbelebte Bauernhöfe oder in alte Schulen. In jedem Fall soll das Arbeitsumfeld rustikal, atmosphärisch und abenteuerlich sein. Viel atmosphärischer als in einer alten Kirche geht es kaum.

[Dieser Text stammt aus dem Brandenburg-Magazin des Tagesspiegels. Es ist erhältlich unter diesem Link]

Im Hof der Kirche mit dem großen Holztisch und den Bierbänken stand bis vor kurzem ein Zigarettenautomat für die Pratergäste. Eines Tages verschwand er. Dabei war er sehr praktisch, denn der nächste Laden ist acht Kilometer entfernt, die schilfbewachsene Uferböschung der Havel dagegen nur zehn Schritte. Am gegenüberliegenden Ufer dichter Wald, soweit das Auge reicht. Der dunkelste Ort Deutschlands mit der niedrigsten nächtlichen „Lichtverschmutzung“ liegt ganz in der Nähe.

Man beginnt zu begreifen, warum der Havelprater ständig ausgebucht ist. Das hieß bisher: von Frühling bis Spätherbst. Vielleicht ändert sich das diesen Winter, ein großer Kamin im Kirchenschiff ist geplant. Zuerst entsteht aber ein ­Badehaus mit Toiletten, die das Sägespäne-Trockenklo ersetzen sollen, dazu soll es Duschen und eine Waschmaschine geben.

Garantiert keine Ablenkung. Die Einrichtung im "Havelprater" ist protestantisch karg
Garantiert keine Ablenkung. Die Einrichtung im "Havelprater" ist protestantisch karg

© Kitty Kleist-Heinrich

Der Umbau geschieht in Etappen, denn Beer ist ein Ein-Frau-Betrieb. „Ich baue das hier im Alleingang auf, werde aber immer als ,Ihr' angesprochen“, sagt sie. „Wie geht's Euch hier? Wie macht Ihr das? Keiner glaubt, dass ich dieses Projekt allein stemme, auch finanziell. Von dem Geld, das ich bisher in die Kirche gesteckt habe, könnte ich zwei Porsche fahren. Aber ich hätte lieber eine neue Küche als einen Porsche.“ Die gebürtige Brandenburgerin aus Neuruppin studierte Journalistik, Kunstgeschichte und BWL in Leipzig, wechselte dann auf die Wiener Filmakademie und arbeitete 15 Jahre lang als selbstständige Produktionsleiterin für Spielfilme, Dokumentar- und Werbefilme. „Damals war die Herausforderung noch: Juliane, gib bitte innerhalb von zwei Tagen 300 000 Euro aus!“ Zu ihrer Kirche kam sie 2006 auf der Suche nach einer Location für einen Kurzfilm. Die Gemeinde Havelsee stellte ihre stillgelegte Dorfkirche, Baujahr 1870, zur Verfügung. Eine Woche vor Drehbeginn machte sie jedoch einen Rückzieher, angeblich weil die Kirche verkauft werden sollte. Beer hielt das für eine Ausrede. „Also habe ich spontan gesagt, dann bin ich eben diejenige, die Ihre Kirche kauft.“ Der Preis entsprach dem Gegenwert ihres nächsten Films. Den habe sie sich bei der Bank in Fünf-Euro-Scheinen auszahlen lassen, in ein silbernes Köfferchen gestapelt und dem Notar im Beisein dreier schwarzgekleideter und ernst dreinschauender Schwestern aus der Kirchengemeinde überreicht, erzählt Beer. Daraufhin seien Bänke, Glocke, Orgel und Altar abgeholt worden, und die drei Schwestern hätten die Kirche ausgeräuchert und entwidmet. „Danach hieß es: Jesus ist aus- und Juliane ist eingezogen.“ Man merkt Beer an, dass sie das ganz große Kino liebt.

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Im Co-Working-Space Havelprater tut die Reihenfolge nichts zur Sache
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen? Im Co-Working-Space Havelprater tut die Reihenfolge nichts zur Sache

© Kitty Kleist-Heinrich

Ihre Vision sei es, einen Ort zu schaffen, an dem Leute zusammenkommen, die arbeiten und Projekte umsetzen, sich aber gleichzeitig auch erholen können. Diese Kombination aus Arbeit und Urlaub hat natürlich auch schon die Berliner Co-Working-Szene entdeckt und ihr einen Namen gegeben: „Workation“, ein englisches Kompositum aus work und vacation. Das Konzept wird im Havelprater bereits seit Jahren erfolgreich umgesetzt. „Wir haben hier schon sehr gute CDs aufgenommen. Wer sich in der Stadt ein Musikstudio für 3 000 Euro am Tag anmietet, steht unter unglaublichem Druck, dass die Aufnahme schnell gelingen muss. Dann klappt es erst recht nicht, und der Stress wird noch größer. Hier waren wir in viel kürzerer Zeit fertig als üblich und hatten in den Pausen die Möglichkeit, uns zu entspannen. Weil man Wasser und Vögel sieht und plötzlich andere Dinge Perspektive schaffen.“ Etwa Dinge wie schwimmen, schnitzen, grillen oder mit dem Kanu die überwachsenen Havelarme entlangpaddeln.

"Was für ein besonderer Ort"

Inzwischen wird der „Havelprater“ von Malgruppen und Kochbuch-Autoren für Theater-Workshops und Fastenwochen genutzt. Auch ein japanischer Mathematiker habe sich hier während eines bitterkalten Herbstes für zwei Wochen eingemietet, um ungestört an einer komplizierten Formel zu arbeiten, sagt Beer. Seit einiger Zeit ist ihre Location auch auf „Airbnb“ zu finden, 2017 als zweitbeliebteste Adresse Deutschlands. Ein Blick ins Gästebuch zeigt auf fast jeder Seite die gleiche Formulierung, nur in unterschiedlichen Sprachen: „Was für ein besonderer Ort. Danke, dass du ihn mit uns teilst!“

Und was sagen die Einheimischen zur Verwandlung ihrer Kirche? „Die Leute haben positiv reagiert“, sagt Beer. „Es gibt hier wenig gläubige Menschen. Manche waren ein bisschen fassungslos darüber, dass die Kirche verkauft wurde, aber mehr nach dem Motto: 1965 haben wir in dieser Kirche geheiratet und jetzt sitzen wir hier am Küchentisch und trinken Rotwein.“

Sparsam ausgestattet ist die Küche, dafür gibt es eine gute Espressomaschine
Sparsam ausgestattet ist die Küche, dafür gibt es eine gute Espressomaschine

© Kitty Kleist-Heinrich

Früher gab es zum Rotweintrinken in Havelsee eine Kneipe. Die hat längst zugemacht. Beer sieht ihre Aufgabe auch darin, im Dorf neue Strukturen zu schaffen und alte wiederzuentdecken. Zu Weihnachten lädt der Prater zum Weihnachtsmarkt, jedoch nur die Dörfler. Im Sommer grillt der Fischereiverein hier, in absehbarer Zukunft sollen in der ehemaligen Kirche auch wieder Hochzeiten gefeiert werden, aber auch nur die der Einheimischen von Havelsee. Denn eine Eventlocation für die Berliner Szene soll der Prater nicht werden. „Die meisten Brandenburger geben heute nicht gern zu, dass sie Brandenburger sind. Politik, Gesellschaft und Kultur haben diese Region jahrelang vergessen. Eine grobe Fahrlässigkeit. Mir ist es wichtig, sie wiederzubeleben und positiv zu besetzen“, sagt Beer.

An Ideen fehlt es ihr nicht. Erst einmal will sie einen Internet-Anschluss in Havelsee schaffen, dann vielleicht ein Hausboot bauen, auf dem auch übernachtet werden kann. Daneben ist sie dabei, den Brandenburger Jakobsweg, der seit dem Mittelalter acht Kilometer weiter durch Kirchmöser führt, nach Havelsee verlegen zu lassen. Sie sei dafür schon mit Berliner Ämtern in Kontakt, sagt sie.

Aber als erstes müsse der Zigarettenautomat wieder her.

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