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Eine heimlich gemachte Aufnahme eines Treffens von Anhängern der Anastasia-Bewegung.

© Silvio Duwe

Gesellschaft: Außen öko, innen Hass

Sie himmeln eine Romanfigur an, leugnen Corona, glauben an Rassenlehre und jüdische Schuld. Die völkischen Siedler der „Anastasia-Bewegung“ versuchen sich in Deutschland zu etablieren. Nun auch in Berlin.

Es ist so leicht, den Krebs zu besiegen. Lina R., eine Heiltherapeutin, verrät es den anderen im Forum. Man spaziere in den Wald, grabe an einer beliebigen Stelle und entnehme eine Duftprobe aus 15 Zentimetern Tiefe. „Wenn es ganz typisch nach gesundem Wald riecht, nimmst du zwei Hände voll von dieser Erde mit nach Hause.“ Dort gebe man sie in ein Glas, schütte Wasser drauf und lasse das Gemisch einen Tag ziehen: „Nun trinkst du täglich ein Schnapsglas von dieser Flüssigkeit.“ Anschließend habe der Krebs „ganz schnell keine Chance mehr“.

Im Forum, in dem Lina R. ihre Wundermedizin preisgibt, kann man auch lernen, wie sich ein Gewächshaus bauen lässt. Oder warum alte Apfelsorten besser sind als gewöhnliche. Oder dass so etwas wie das Coronavirus natürlich nicht existiert. Vor allem geben sich Gleichgesinnte hier Tipps, wie ihnen am besten der Ausstieg aus der Gesellschaft gelingt und sie ihrem Idol nacheifern können: der Eremitin Anastasia aus der sibirischen Taiga.

In das geheime „Familienlandsitz & Siedlungsforum“ findet nur, wer auf der Messengerplattform Telegram von anderen dazu eingeladen wird. Aktuell hat es mehr als 3000 Mitglieder. Es dient zur Vernetzung der sogenannten Anastasia-Bewegung in Deutschland – einem ökoesoterischen Kult, der aus Russland kommt und zunehmend auch in der Bundesrepublik Anhänger findet. Sein Kern ist das Versprechen, jeder Mensch könne übersinnliche Kräfte erlangen, wenn er nur seinen Lebensstil ändert und als Selbstversorger in die Natur zieht. Hellsicht, Telepathie, sogar Teleportation, das alles sei dann möglich.

Kritiker sagen, hinter der Fassade der Naturverbundenheit stecke eine rassistische Ideologie. Matthias Pöhlmann, Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche, warnt vor demokratiefeindlichem und antisemitischem Gedankengut. Es existierten enge Verflechtungen zu rechten Esoterikern und Verschwörungsideologen. Der Journalist Silvio Duwe, der für das ARD-Magazin „Kontraste“ zweieinhalb Jahre lang undercover in der Anastasia-Bewegung recherchierte, sagt am Telefon, die Anastasia-Bewegung fungiere „als Durchlauferhitzer“. Sie locke Menschen an, die nichts Böses ahnten, und politisiere sie dann massiv. „Es ist eine Rutschbahn in den Rechtsextremismus.“

Anastasia, das Vorbild der Bewegung, ist eine Romanfigur. Ausgedacht hat sie sich der russische Autor Wladimir Megre, 70. Angeblich lebt Anastasia auf einer Lichtung in Sibirien, ernährt sich von Beeren, Nüssen oder Gräsern und spricht mit Tieren. In zehn, vor allem in den Nullerjahren erschienenen Bänden malt sich Megre aus, wie er während einer Handelsreise die deutlich jüngere Anastasia kennengelernt haben will, diese „junge, tadellos gebaute Frau mit goldblondem Haar“. Meist laufe sie halbnackt durch den Wald. Megre verliebt sich in Anastasia, lernt ihr geheimes Wissen, sie bekommen zwei Kinder.

Es ist eine Mischung aus „Lolita“ und „Dschungelbuch“, gewürzt mit esoterischem Humbug und Rassenlehre.

In den Büchern macht Megre genaue Angaben, wie seine Leser selbst übersinnliche Fähigkeiten erlangen können: Jede Familie benötige dafür einen Hektar Land, bepflanze ihn mit 300 Bäumen, lege Beete und einen Weiher an. Die Bäume sollen den Kontakt zu den Ahnen halten. In Russland haben Hunderte Fans der Romanreihe solche „Familienlandsitze“ gegründet.

In der Telegram-Gruppe „Familienlandsitz & Siedlungsforum“ tauschen sich die deutschen Anhänger über mögliche Siedlungsflächen aus. Es gibt auch eine wachsende Gemeinschaft aus dem Großraum Berlin. Vergangenen Sonntag traf sie sich zu einem klandestinen Vernetzungstreffen im Osten der Stadt. Als Versammlungsort nutzten sie das Außengelände der Waldschule Teufelssee südlich des Müggelsees. Der Betreiber der Waldschule distanziert sich deutlich: Rassistische Gruppen hätten in der Einrichtung nichts zu suchen. Weil das Areal jedoch frei zugänglich ist, konnten sich die Anastasianer dort am Sonntag ohne Wissen des Betreibers breitmachen.

Bundesweit gibt es bereits Dutzende Siedlungsprojekte von Anhängern der Romanreihe, in Brandenburg existieren mindestens vier. Zum Beispiel „Goldenes Grabow“ im Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Nach Recherchen des Journalisten Silvio Duwe gehören den Siedlern dort mindestens 84 Hektar Land.

Duwe besuchte Vorträge, Lesekreise und Kennenlerntreffen von Siedlungsprojekten in ganz Deutschland. Er sagt, die Bewegung ziehe Junge wie Alte an, Akademiker und Handwerker, Biolandwirte, Aussteiger und Daimler-Angestellte. „Was sie verbindet, ist die Suche nach alternativen Lebenskonzepten.“ Die allermeisten wüssten nicht, welche rassistische, antidemokratische Ideologie sie erwarte.

In der Telegram-Gruppe lässt sich das in Echtzeit beobachten. Neugierige, die von Freunden in die Gruppe geladen werden, sind begeistert von einer Aussicht auf ein Leben im Einklang mit der Natur – und bekommen dann erklärt, dass die Bundesrepublik eine Firma sei und die Demokratie eine Falle. „Können wir hier bitte beim Thema Landsitze bleiben?“, fragt eine Teilnehmerin. Sie wird zurechtgewiesen, sie solle erst mal die großen Zusammenhänge verstehen.

Weil viele Neuankömmlinge nicht alle Bücher gelesen haben, wissen sie oft nichts vom Antisemitismus, der in den späteren Bänden deutlich zutage tritt. Wladimir Megre schreibt etwa, Juden seien programmierte „Bio-Roboter“. Sie hätten „die Presse verschiedener Länder unter ihre Kontrolle gebracht“, die globalen Geldströme würden „zum größten Teil von Juden kontrolliert“. Seit Jahrtausenden versuchten sie, „mit allen Mitteln so viel Geld wie nur möglich in ihren Händen zu konzentrieren“. Aus dem Holocaust und antijüdischen Pogromen lasse sich der Schluss ziehen, dass das „jüdische Volk vor den Menschen Schuld hat“.

Megres Anhänger leugnen den offensichtlichen Antisemitismus – etwa mit dem Argument, der Autor meine es ja nur gut mit den Juden, wolle sie vor den nächsten Pogromen bewahren. Ihre Logik: Sobald die Juden aufhörten, ihre Mitmenschen zu betrügen, werde ihnen auch keine Gewalt mehr widerfahren.

Im „Familienlandsitz & Siedlungsforum“ sind bekannte Rechtsextreme aktiv. Sie versuchen, Ahnungslose zu rekrutieren. Frank Willy Ludwig zum Beispiel. Der massige Mann mit Glatze und Vollbart hat sich nach Lektüre der Anastasia-Bücher im Dorf Liepe östlich von Eberswalde, einen Kilometer vom Schiffshebewerk Niederfinow, niedergelassen. Nach eigener Aussage gab er eine Managerkarriere auf, um Anastasias Weisheiten zu befolgen und sein Glück auf dem Land zu finden.

Nun bestehe sein Auftrag darin, „das arische Wissen in den Stämmen wieder zu erwecken“. Ludwig hält deutschlandweit Vorträge, auf denen er etwa über die „Gesetze der Reinheit des Blutes“ spricht und erläutert, warum die Menschenrassen unter sich bleiben sollten: Mischlinge hätten das Problem, nicht zu wissen, zu welchen Ahnen sie Kontakt halten sollen. Zudem besitze jede Rasse ihre „eigenen Wahrnehmungskanäle“. Arier hätten 16, Asiaten zwölf, Schwarze sechs.

In der Telegram-Gruppe wirbt Ludwig für eine mehrtägige Reise nach Rügen, die er für Interessierte organisieren will. Dort könne er, gegen einen Unkostenbeitrag von 360 Euro, über wichtige Zusammenhänge aufklären. Es gibt etliche Interessenten. Auch am Sonntag beim Berliner Vernetzungstreffen am Teufelssee war der Ex-Manager dabei.

Frank Willy Ludwig glaubt, Arier seien Außerirdische und kämen vom Sternbild des Kleinen Wagens. Einmal sei versucht worden, „den Schwarzen ein Gewissen einzupflanzen“, doch dann habe „man gemerkt, an den Genen darf man nicht rumpfuschen“. Auf seinen Vorträgen reckt Frank Willy Ludwig den durchgestreckten rechten Arm in die Luft und sagt, na, das sei doch kein Hitlergruß, sondern ein Sonnengruß der Ahnen. Die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck lobt er als „Herzensmensch“.

Silvio Duwe, der Journalist, hat einige Vorträge Ludwigs besucht. Er sagt, er habe dort Menschen getroffen, die überzeugt seien, dass man Juden an ihrer „grauen Haut sowie den finsteren Augen“ erkenne und Homosexuelle an ihrem nach rechts oder links verschobenen Bauchnabel. Und dass man Letztere zur Heterosexualität bekehren könne, indem man ihren Nabel mit einer speziellen Massagetechnik in die Mitte zurückschiebe.

Silvio Duwe sagt, deutsche Behörden hätten die Anastasia-Bewegung lange verharmlost oder ignoriert. In Sicherheitskreisen habe sich inzwischen „die Erkenntnis durchgesetzt, dass man es mit völkischen Siedlern zu tun hat, die eben nicht im klassischen Nazigewand daherkommen“. In den Regionen, in denen Anhänger Landsitze errichteten, herrsche jedoch oftmals Unkenntnis.

Im brandenburgischen Grabow, wo Anastasianer die Gemeinschaft namens „Goldenes Grabow“ gegründet haben und die Eröffnung einer Schule planen, habe der Ortsvorsteher die Neuankömmlinge ausdrücklich begrüßt.

Ähnlich lief es in Wienrode im Harz. Duwe sagt: „Da dominiert der Wunsch, wegzuschauen und das Positive zu sehen.“ Schließlich kämen junge Leute, die dabei helfen wollten, das Dorf wieder zu beleben und verlassene Häuser zu renovieren. 

Ziel der Siedler ist, zusammenhängende Flächen zu schaffen, die komplett von Anastasia-Anhängern bewohnt werden. Einen Landstrich, den man übernommen habe, könne man, so die Hoffnung, dann auch politisch gestalten. Eine von den eigenen Leuten eröffnete Schule etwa werde auch andere Kinder aus der Region anziehen. Ganz einfach, weil die nächste weiter entfernt liegt.

In den bestehenden Brandenburger Siedlungen wirken die Siedler wie verschrobene, aber harmlose Hippies: in Cordhosen und Leinenkleidung, die Frauen in langen Röcken und mit Zöpfen. In Berlin kann man ihr Aussehen in unregelmäßigen Abständen vor dem Reichstag bestaunen. Wenn der rechtsextreme „Volkslehrer“ zu alten Volkstänzen lädt, reisen auch Anastasia-Anhänger an. Die langen Röcke werden getragen, damit der Energiefluss aus dem Erdboden zur Frau nicht gestört wird.

In seinen Büchern verkündet Wladimir Megre noch andere Theorien über Frauen. Unter anderem glaubt er an Telegonie. Das bedeutet, dass jede Frau vom Samenabdruck ihres ersten Sexualpartners geprägt wird, quasi dessen DNA aufnimmt und diese lebenslang an ihre eigenen Kinder weitervererben wird. Megre sieht dies als Bedrohung der eigenen Rasse.

Eine Arierin, die als Erstes mit einem Nichtarier schlafe, könne niemals mehr einen Angehörigen der eigenen Rasse gebären. Megre schreibt: „Es kommt immer wieder mal vor, dass ein kleiner schwarzer Junge das Licht dieser Welt erblickt, weil früher seine Oma oder die gebärende Mutter sexuellen Kontakt zu einem schwarzen Mann hatte.“

Auf Telegram beschweren sich Megre-Fans, der Autor und Anastasia würden von Kritikern „diffamiert“. Megre gebe doch bloß Wahrheiten wieder, das könne man nicht gegen ihn auslegen.

Unmut gibt es auch gegenüber deutschen Behörden. Die erschwerten durch Gesetze und Vorschriften das Errichten von Familienlandsitzen, teils werde schon das Aufstellen von Bauwagen unterbunden. Einige Anastasianer plädieren daher aktuell dafür, nach Russland auszuwandern und in Sibirien, in der Heimat ihres Vorbilds, zu siedeln. Andere geben zu bedenken, dass dort über viele Monate im Jahr Frost herrsche und das Leben als Selbstversorger weitaus beschwerlicher sei als in Deutschland.

Lange Zeit behauptete Wladimir Megre, bei Anastasia handle es sich um eine reale Person. Er habe sie wirklich getroffen, seine Bücher seien Tatsachenberichte. Das änderte sich vier Jahre nach Erscheinen des ersten Buches abrupt.

Als er eine andere Frau, die ebenfalls behauptete, Anastasia kennengelernt zu haben, verklagte, musste er vor Gericht zugeben, dass Anastasia seiner Fantasie entsprungen ist. Die Protagonistin seiner Romanreihe und Vordenkerin der Bewegung sei lediglich eine „künstlerisch erschaffene Figur“.

Das hält den Autor nicht davon ab, seine Fans weiter anzulügen. Neben seinen Büchern macht er aktuell Geschäfte mit dem Verkauf von Zedernholz, das angeblich magische Kräfte besitze. Und natürlich stehe er weiterhin mit Anastasia in engem Austausch. Im Juni verkündete Megre, er habe mit ihr über Corona gesprochen. Anastasia habe ihn beruhigt und gesagt: „Was die Leute das Coronavirus nennen, Wladimir, ist nichts weiter als eine lebendige Denksubstanz.“ Geschaffen, um einen produktiven Dialog mit der Menschheit zu führen. Dadurch sei bereits viel Gutes erreicht worden.

Glaubt man Wladimir Megre, hat die allwissende Anastasia es ihm so erklärt: „Diese unsichtbaren Kreaturen haben Menschen auf der ganzen Welt gezwungen, ihre oft schädliche Produktion einzustellen, sich in ihren Häusern zu isolieren.“ Dort könnten die Menschen nun endlich über ihre Zukunft und die Zukunft der gesamten Menschheit nachdenken.

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