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Der schlimmste Tag im Leben. Wenn Mädchen zur Ehe gezwungen werden. (Gestellte Szene)

© Gabriel Bouys/AFP

Aus Deutschland nach Pakistan verschleppt: Zahra wurde zwangsverheiratet – nach 6 Jahren rettet sie eine Facebook-Nachricht

Allein in Berlin werden jedes Jahr hunderte Frauen von ihren Familien zwangsverheiratet. Die zwölfjährige Zahra war eine von ihnen.

Von Ronja Ringelstein

Es ist Februar, als Zahra aus der Schule nach Hause kommt und erfährt, dass sie mit ihrer Mutter und den Brüdern nach Pakistan fliegen soll. Es sind keine Ferien, Zahra möchte in der Schule nichts verpassen. Sie will nicht mit – aber sie muss. Die Tickets seien teuer gewesen, heißt es. Außerdem sei es nur für zwei Wochen, Familie besuchen.

Doch aus den zwei Wochen werden zwei Monate. Mutter und Brüder reisen wieder ab. Zahra bleibt im Haus einer Tante in einer Kleinstadt rund 200 Kilometer entfernt von Islamabad. Die Tante spricht davon, dass Zahra mal ihren Sohn heiraten solle. Zahra nimmt das nicht ernst. Sie ist zwölf Jahre alt.

Sechs Jahre später, wenige Tage vor Weihnachten 2018, nach Mitternacht, steigt Zahra in Berlin-Tegel aus einem Flugzeug aus Islamabad. Mit einer Tasche Handgepäck.

„Schön, dass du da bist, Zahra“, habe sie zu ihr gesagt, erinnert sich Eva Kaiser. Und sie in den Arm genommen, als wären sie alte Freundinnen. Mehr als ein Jahr lang hatten sie einander geschrieben – und eine Flucht geplant. Fast sechs Jahre war Zahra nicht in Deutschland gewesen.

Zahra hat langes schwarzes Haar und trägt falsche Wimpern, die ihre großen dunklen Augen betonen. An einem Tag im November ist sie in die Tagesspiegel-Redaktion gekommen. Sie will ihre Geschichte erzählen. Wie sie als Jugendliche in Pakistan zwangsverheiratet wurde, wie sie schließlich entkam. Zur Verstärkung hat sie Eva Kaiser dabei.

Alle Frauen in diesem Artikel tragen eigentlich andere Namen, doch weil sie unter keinen Umständen erkannt werden möchten, müssen sie vorsichtig sein.

Sie soll Mann und Schwiegermutter dienen

Eva Kaiser, eine Frau Mitte sechzig mit Lachfalten um die Augen, leitet seit 25 Jahren die Kriseneinrichtung Papatya. Die ist Anlaufstelle für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, die von ihren Familien bedroht werden, zu Hause Gewalt erfahren oder etwa gegen ihren Willen verheiratet werden sollen. Mehr als 2.000 Mädchen hat Papatya schon in einer geheimen Wohnung Schutz geboten. Bis zu acht Mädchen haben darin Platz, auch Zahra wohnte nach ihrer Ankunft in Berlin dort eine Zeit lang. Die meisten bleiben nicht länger als drei Monate, dann ziehen sie in andere Wohneinrichtungen – wenn alles gut geht. Manche kehren in der Hoffnung, dass es besser wird, wieder zurück in die Familien. „Hier werden die Weichen gestellt“, sagt Eva Kaiser, „Aufbruch ins Unbekannte oder zurück in die alte Grausamkeit.“

Zahra erinnert sich an die Autofahrt zur Wohnung, quer durch Berlin. Wie sie auf die Straßen der Stadt schaute und zu Eva Kaiser sagte: „Es kommt mir vor wie ein Traum, dass ich wieder in Deutschland bin. Ich dachte aber auch: War ich wirklich sechs Jahre weg? Pakistan war eine andere Welt.“ Es fällt ihr schwer, gedanklich dorthin zurückzukehren.

Im Haus der Tante, etwa zwei Autostunden von Islamabad entfernt, muss sie früh aufstehen, Frühstück machen, putzen, kochen, Wäsche waschen. Hat sie „frei“, darf sie fernsehen. Sie geht nicht zur Schule, darf nicht vor die Tür; sie trägt landestypische lange Gewänder und stets ein Kopftuch. Die Tante beschuldigt Zahra, Jungen vom Fenster aus zu beobachten. Sie schlägt die Nichte deswegen. Am Telefon fleht Zahra den Vater an, sie nach Hause zu holen, er tut es nicht. So vergehen mehr als drei Jahre. Ein Handy und ihre beiden Pässe hat sie schon lange nicht mehr.

Für Zahra ist das heute im Rückblick alles verschwommen, die Tage, Wochen, Monate seien alle gleich gewesen.

Der Vater tritt und schlägt sie

Dann kommt der Vater doch. Zahra, inzwischen 16 Jahre alt, glaubt, dass er sie holt. Doch alles wird schlimmer. Sie erkennt den Vater nicht wieder. Er beleidigt, tritt und schlägt sie, droht sogar, sie umzubringen. Der Vater sagt ihr, sie solle den sieben Jahre älteren Cousin heiraten. Zahra will nicht, sie kennt den Mann kaum, er wohnt in Spanien. Doch sie hofft, dass die Schläge dann aufhören.

Ein Imam wird ins Haus geholt und in einem Videotelefonat wird eine Hochzeit nach islamischem Recht zwischen Zahra und ihrem Cousin geschlossen. „Ich war froh, dass es schnell passiert ist“, sagt Zahra. Einen Tag nach der Heirat reist der Vater ab. Zahra bleibt, mehr Rechte bekommt sie als Verheiratete nicht. Im Gegenteil: Als Schwiegertochter ist sie der Tante unterworfen. Zahra traut sich nicht, wegzulaufen. Sie hat kein Geld, keine Freunde und kennt sich in dem Land nicht aus.

Der Gedanke, dass ihre Familie alles von Anfang an geplant hat, kommt Zahra erst Jahre später.

Die letzten offiziellen Zahlen sind von 2017, da wurden 570 Fälle vollzogener oder geplanter Zwangsehen in Berlin bekannt. Die Berliner Arbeitsstelle gegen Zwangsverheiratung hatte mehr als 1000 Einrichtungen aus dem Antigewaltbereich sowie Jugendämter, Polizei, Schulen und Flüchtlingsunterkünfte angefragt. Nur 420 von ihnen haben geantwortet. Die Datenlage ist also schlecht. Eva Kaiser schätzt, dass die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher ist.

Sie ist gut in der Schule, geht gern hin

Auch Zahras Fall wäre beinahe nicht bekannt geworden. Es sei untypisch, sagt Eva Kaiser, dass Zahra sechs Jahre in Pakistan blieb. „Dass die Heirat in einem Land der Eltern stattfand, ist aber überhaupt nicht untypisch.“ Viele der Zwangsverheiratungen fänden im Ausland statt, weil sich die Mädchen da kaum wehren könnten. Manche kommen nie aus den Sommerferien zurück, andere kommen zurück, aber sind verändert. Nicht allen Lehrern fällt das auf. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hat einen Leitfaden im Internet veröffentlicht, wie Lehrer Zwangsverheiratungen oder andere „Gewalt im Namen der Ehre“ erkennen und womöglich verhindern können. Ein Warnsignal sei demnach, dass zuvor fröhliche Mädchen – oder auch Jungen – plötzlich bedrückt und in sich gekehrt seien und sich die Noten verschlechterten.

Zahra wächst in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen auf. Ihre Familie ist aus Pakistan nach Deutschland gekommen, als sie drei Jahre alt war. Ihr Vater arbeitet, irgendetwas mit Autoreifen, Zahra weiß es nicht sicher. Die Mutter darf nicht arbeiten gehen, trägt Kopftuch, weil der Vater es so will. Zahra hat kein gutes Verhältnis zu ihr.

Die drei kleinen Brüder himmeln ihre ältere Schwester an. Sie ist gut in der Schule und geht gerne dorthin. Die Klassenlehrerin will, dass Zahra auf die Gesamtschule versetzt wird, vielleicht einmal Abitur macht. „Aber mein Vater hat mich einfach zu spät angemeldet. Ihm waren meine Noten und auf welche Schule ich gehe, immer egal“, sagt Zahra heute.

So besucht Zahra die Hauptschule, die einen sehr schlechten Ruf hat. Sie liegt in einem Viertel, das als sozialer Brennpunkt gilt, mehr als 80 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Zahra muss kein Kopftuch tragen, aber einen Schal, der ihren Hals bedeckt. Immer wieder sagen die Eltern, sie solle nicht mit Jungen reden. Zahra ärgert das. Unter ihren Freunden sind auch Jungen, sie versteht die Aufregung nicht.

Dann fliegt sie nach Pakistan.

"Du bist das? Ich glaub's nicht."

Wie sie dort schließlich den Mut findet, eines Tages, als sie allein zu Hause ist, das unbenutzte Handy der Tante aus der Schublade im Wohnzimmer zu nehmen, weiß sie nicht mehr. Das Handy hat keine Sim-Karte, aber das W-Lan funktioniert. Sie schließt sich im Badezimmer ein, erstellt einen Facebook-Account unter falschem Namen und schreibt ihrer Freundin Deniz, die sie seit Jahren nicht gesprochen hat. Deniz ist online.

„Wer bist du?“

„Zahra.“

„Was, du bist das? Ich glaub’s nicht, wo bist du?“

Es ist ein Tag im Herbst und Deniz hilft gerade in der Bäckerei ihres Cousins aus. Sie schmiert Brötchen, als sie Zahras Nachricht liest. Deniz erzählt, dass sie dachte, jemand spiele ihr einen Streich. Nachdem ihre Freundin nicht aus dem Pakistan-Urlaub vor vier Jahren zurückgekehrt war, hatte Deniz immer wieder Zahras Eltern gefragt, wo sie denn sei, erzählt sie am Telefon. Aber Zahras Eltern hatten Ausreden.

„Du hast mir doch mal Ohrringe aus der Türkei mitgebracht“, schreibt Zahra nun, wie zum Beweis. Doch Deniz will Gewissheit und überredet Zahra zu einem Videotelefonat.

Sie sei „geschockt“ gewesen, Zahra wiederzusehen, in ihren pakistanischen Kleidern. „Ich stand da vor den belegten Brötchen mit Tränen in den Augen“, erinnert sich Deniz.

„Halte durch“, sagt sie der Freundin. Deniz kontaktiert Papatya. So hört Eva Kaiser das erste Mal von Zahra. „Das Mädchen muss selbst mit uns Kontakt aufnehmen“, sagt Eva Kaiser. Deniz gibt die Infos an Zahra weiter.

Sie hat Angst, vergewaltigt zu werden

Als die sich wieder heimlich das Handy nimmt, füllt sie auf www.verschleppung.papatya.org einen Fragebogen aus. Sie schreibt, sie habe einen pakistanischen und einen europäischen Pass – gehabt. „Der europäische wird noch wichtig“, antwortet ihr Eva Kaiser. Zahra, die in Deutschland aufgewachsen ist und sich deutsch fühlt, hat keinen deutschen Pass. Welche europäische Staatsbürgerschaft sie hat, soll hier nicht genannt werden, damit sie nicht wiedererkannt wird.

Eva Kaiser fragt beim Jugendamt in Zahras Heimatstadt nach, ob sie existiert, und erhält eine Bestätigung sowie die zugehörige Passnummer. Dort erfährt sie auch, dass Zahras Eltern sie wenige Monat nach ihrer Abreise nach Pakistan von der Schule abgemeldet haben. Ob sich einer der Lehrer vielleicht gefragt hat, warum, weiß sie nicht. Kaiser gibt die Passnummer der Botschaft in Islamabad weiter. Der Botschafter fühlt sich zuständig, will helfen. Aber einfach 200 Kilometer zum Haus der Tante fahren und das Mädchen abholen, das gehe nicht. Zahra solle selbst nach Islamabad kommen. In der Zwischenzeit vergeht fast ein Jahr. Immer wieder rät Deniz Zahra: „Lauf weg!“, aber Zahra traut sich nicht.

Bis sie mit dem Handy erwischt wird.

Die Tante, von der sie dachte, sie sei nicht im Haus, sieht Zahra mit dem Handy auf der Couch sitzen. Zahra rennt ins Badezimmer, löscht ihr Facebook-Konto, die Tante schreit und hämmert gegen die Tür.

Sie wirft ihr vor, mit einem Jungen Kontakt zu haben. Zahra sagt, ja, das stimme, ein Junge. Besser, als von der geplanten Flucht zu erzählen. Die Tante schlägt zu, auch die Cousins und der Onkel schlagen sie, sprechen von Schande. Sie werfen Zahra aus dem Haus – nur um sie kurz darauf wieder einfangen zu wollen. Zahra entkommt, mit nichts als einer leeren Tasche. Es ist Abend und schon dunkel. Zahra hat Angst, vergewaltigt zu werden. Sie sagt: „Ich hatte Glück.“

Was genau passiert ist, erzählt sie nicht

Einen Tag und eine Nacht weiß Zahra nicht, wohin. Was genau passiert ist, erzählt sie nicht. Eva Kaiser glaubt, dass sie sich schämt, auch wenn es nichts zu schämen gibt. Die Polizei habe sie schließlich aufgegriffen. Der sagt sie nicht, wo sie wohnt. Also bringen sie sie in ein Heim für „Frauen ohne Ehre“, wie Zahra es nennt. Es ist ein geschlossenes Heim, einmal in der Woche darf sie telefonieren und ins Internet. Ein paar Wochen bleibt sie dort.

Hört sie mal nichts von Zahra, macht Eva Kaiser sich Sorgen. Sie organisiert, dass die Botschaft in Islamabad Zahra aufnimmt. Dort kann sie etwas länger als einen Monat bleiben, muss es auch, weil sie als Minderjährige keinen Pass beantragen darf, um auszureisen.

Ein paar Tage nach ihrem 18. Geburtstag geht ihr Flug nach Berlin.

Als Zahra die Wohnung von Papatya in jener Dezembernacht zum ersten Mal betritt, schläft das andere Mädchen in ihrem neuen Zimmer schon. In der Küche trinkt sie noch einen Tee mit Eva Kaiser, die ihr alles erklärt und ihr die Mitarbeiterin der Nachtschicht vorstellt. Zahra erinnert sich, dass sie mit gemischten Gefühlen schlafen geht. Niemand hat ihr gezeigt, wie sie ihr Leben selbstbestimmt leben kann. Sie beginnt eine Psychotherapie, hört aber wieder auf. Später vielleicht.

"Zahra ist da, wo sie hingehört"

Die islamische Ehe mit ihrem Cousin ist in Deutschland nichtig. Zu den Eltern hat sie keinen Kontakt aufgenommen. Sie will es nicht, selbst wenn die Eltern und die Brüder ihr fehlen. Deniz erzählt, sie habe Zahras Mutter vor einigen Monaten auf der Straße getroffen, diesmal habe die Mutter sie gefragt, wo Zahra sei. „Zahra ist da, wo sie hingehört“, habe Deniz ihr gesagt. „Ich stelle immer wieder fest, dass die Familien, die ihre Töchter wegschicken, gar kein Unrechtsbewusstsein haben“, sagt Eva Kaiser. „Sie denken, ihre Tochter sei ihr Eigentum. Was deine Eltern gemacht haben, ist gegen das Gesetz, das weißt du, oder?“ Eva Kaiser streicht Zahra ihre Haare über die Schultern. Zahra nickt.

Gerade steht sie vor der letzten Prüfung ihrer Berufsbildungsreife, das entspricht einem Hauptschulabschluss. „Ich will schnell was erreichen, ich habe sechs Jahre verloren. Ich wünschte, ich wäre früher gekommen, hätte in eine normale Schule gehen können“, sagt Zahra. Doch das Lernen fällt ihr schwer. In Deutschland, in einer fremden Stadt, wirklich anzukommen, ist schwierig für sie. Richtig frei fühlt sie sich noch immer nicht.

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