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Helfer der „Weißen Helme“ bergen Leichen in Idlib.

© AFP/Ibrahim Yasouf

Update

Aus der Hölle von Idlib: „Alle sind tot“

Seit Mitternacht gilt eine Waffenruhe in Idlib. Bringt sie Rettung für die Eingeschlossenen? Bewohner, Ärzte und Helfer berichten aus dem Chaos.

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In ihrer Nachbarschaft, sagt Huda Khayti, sei heute wieder eine Rakete eingeschlagen. Zehn Kinder seien getroffen worden. „Alle sind tot.“ Die 40-Jährige klingt am Telefon gefasst. Inzwischen sind die Truppen des syrischen Regimes bis auf acht Kilometer an die Stadtgrenze herangerückt. Huda Khayti sagt, sie wolle noch aushalten, noch nicht aus Idlib-Stadt fliehen. Aber es könne jeden Tag so weit sein.

Idlib ist die größte Stadt der gleichnamigen Region im Nordwesten Syriens, der letzten Provinz, die von Aufständischen kontrolliert wird. Von Süden und Osten versuchen die Truppen des Regimes, unterstützt von der russischen Luftwaffe, auch diese Region zurückzuerobern. In den vergangenen Wochen haben sie große Geländegewinne erzielt. Von Idlib-Stadt sind es noch 30 Kilometer nach Norden bis zur türkischen Grenze – die jedoch unpassierbar ist, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen will.

Auf der verbliebenen, immer kleiner werdenden Fläche der Aufständischen drängen sich mittlerweile drei Millionen Menschen. Das Regime betrachtet sie als Landesverräter – ausdrücklich auch die Zivilisten, die Frauen und Kinder. „Sollte man uns in die Hände kriegen, werden sie uns massakrieren“, sagt Huda Khayti, die Frau am Telefon. „Daran habe ich keine Zweifel.“ Der Kampf um Idlib könnte das letzte Kapitel des syrischen Bürgerkrieges werden. Es könnte auch eines der grausamsten werden.

Seit Mitternacht gilt eine Waffenruhe in Idlib

Eine am Donnerstag zwischen Russland und der Türkei vereinbarte Waffenruhe für Idlib hat offenbar zumindest in den ersten Stunden Wirkung gezeigt. In der Region herrsche „relative“ Ruhe, teilten Aktivisten in der Nacht zum Freitag mit. Weder die syrische Regierungsarmee noch die mit ihr verbündeten russischen Verbände hätten danach zunächst ihre Luftangriffe in Idlib fortgesetzt, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Bis wenige Minuten vor Mitternacht habe es allerdings noch Bombardierungen gegeben. Beobachter fürchten, dass die Konfliktparteien die Pause lediglich dazu nutzen werden, neue Ausrüstung und Munition herbeizuschaffen, dass die Kämpfe sehr bald weitergehen. Die letzte von Russland und der Türkei ausgehandelte Waffenruhe hielt nicht mal eine Woche.

Es gibt keine schützenden Bunker in Idlib

Huda Khayti ist die Leiterin eines Frauenzentrums in Idlib-Stadt. Ihr Team gibt Erste-Hilfe-Kurse, Rechtsberatung, Englischunterricht. Jeden Morgen auf dem Fußweg zur Arbeit sieht Khayti, wie drastisch sich ihre Stadt in den vergangenen Monaten verändert hat. Offiziell hatte die Provinzhauptstadt einst 160.000 Bewohner, nun sind es mehr als eine Million, weil Flüchtlinge aus anderen Landesteilen hier her geflohen sind.

Huda Khayti sagt: „Sie übernachten auf den Straßen und in Zelten in der Innenstadt.“ Die Temperaturen fallen nachts unter den Gefrierpunkt, es schneit und regnet oft. Nahrungsmittel gibt es, sind aber stark überteuert, vielen bleibt nur Brot. Den Raketen und Bomben, die mittlerweile im Stundentakt einschlagen, sind die Menschen schutzlos ausgesetzt, berichtet Huda Khayti. Es gebe schlicht keine Bunker.

Idlib-Stadt wird von Hajat Tahrir al-Scham, kurz HTS, kontrolliert. Einem islamistischen Bündnis, das dem Terrornetzwerk Al Kaida sehr nah steht. Weil HTS alle Kapazitäten zur Verteidigung gegen das Regime braucht, bleiben ihm keine Kräfte, als Religionspolizei das Alltagsleben der Bevölkerung zu kontrollieren. Unterdrückung und drakonische Strafen wie einst unter dem Islamischen Staat gebe es in der Region derzeit nicht, heißt es.

Eingekesselt. In Idlib versammeln sich mehr als drei Millionen Flüchtlinge. Auch Huda Khayti gehört dazu.
Eingekesselt. In Idlib versammeln sich mehr als drei Millionen Flüchtlinge. Auch Huda Khayti gehört dazu.

© AFP/H. Khayti

Weil so viele Flüchtlinge aus anderen Landesteilen hier sind, nennt Huda Khayti die Stadt „Klein-Syrien“. Auch sie selbst ist hierher geflohen. Anfang 2018 musste sie mit ihren Eltern die Stadt Duma in Ost-Ghouta nahe Damaskus verlassen, Assads Armee rückte dort ein. Vater und Mutter schlugen sich bis in die Türkei durch, Huda Khayti entschied sich, in Syrien zu bleiben. „Ich wollte helfen“, sagt sie, „einen Beitrag leisten.“ Auch wenn sie Angst hatte vor den Islamisten, die Idlib beherrschen.

Neben den Geflüchteten gibt es zehntausende dschihadistischer Kämpfer in der Region. Dies liegt an einer jahrelang praktizierten Taktik des Regimes: Radikalen Milizen, die in anderen Landesteilen in die Enge getrieben wurden, bot man jeweils einen Deal an. Statt eines Kampfes bis zum letzten Mann sicherte man ihnen und ihren Familien freies Geleit zu – und transportierte sie in Buskolonnen nach Idlib.

Beobachter haben die Region als „Killbox“ beschrieben

So konnte Assad Stück für Stück die Kontrolle über das Land zurückgewinnen, während in Idlib gleichzeitig die Dichte an Dschihadisten zunahm und moderate Aufständische in Unterzahl gerieten, von den Extremisten gezielt aufgerieben wurden. Beobachter haben die Region schon vor zwei Jahren als „Killbox“ beschrieben – als Gefäß, in das Menschen gefüllt werden, um sie ruhig zu stellen und schließlich, wenn alle übrigen Gegenden befriedet sind, mit geballter Kraft vernichten zu können. Auf Seiten Assads kämpfen in Idlib auch die libanesische Hisbollah und Millizionäre aus Afghanistan, Pakistan sowie dem Irak – alle schiitisch und unter dem Kommando der iranischen Quds-Brigaden.

Russische Sukhoi Su-27 Jets sind an den Luftangriffen beteiligt.
Russische Sukhoi Su-27 Jets sind an den Luftangriffen beteiligt.

© Muhammad Haj Kadour/AFP

Als entscheidender Faktor und Grund für die Geländegewinne Assads gilt jedoch die Unterstützung der russischen Luftwaffe.

Manche Zivilisten versuchen, jetzt noch nach Nordosten zu gelangen, in die Nachbarprovinz Afrin, die bis vor zwei Jahren von Kurden regiert wurde, dann aber durch islamistische, von der Türkei ausgerüstete Milizen erobert wurde. Der Weg dorthin ist gefährlich, auch hier greift die syrische Armee an. Außerdem gibt es in Afrin kaum Hilfsorganisationen, somit nicht mal Notversorgung.

Entlang der Grenze haben sich dutzende Zeltstädte gebildet

Die meisten Menschen fliehen deshalb nach Norden, in Richtung der 400 Kilometer langen Betonmauer, durch die Erdogan niemanden lässt. Türkische Soldaten schießen auf Menschen, die versuchen, hinüberzuklettern. Entlang dieser Grenze haben sich dutzende Zeltstädte gebildet. Eine Reihe von NGOs sind hier tätig, der HTS lässt sie großteils in Ruhe, behindert nicht ihre Arbeit. Allerdings versuchen die Dschihadisten, in den Lagern gezielt Nachwuchs zu rekrutieren. Das ist nicht schwer: Die Angst vor Vergeltung, vor einem Massaker, sollten es Assads Kämpfer hier her schaffen, ist allgegenwärtig.

Wegen des vielen Regens und Schnees sind die Böden extrem matschig. Regelmäßig erfrieren Menschen, sagt Emmanuel Massart am Telefon. Er arbeitet für Ärzte ohne Grenzen, ist Projektkoordinator für Syrien. Um sich vor der Kälte zu schützen, heizen viele Flüchtlinge in ihren Zelten. Dabei kommt es immer wieder zu Kohlendioxidvergiftungen, die Menschen ersticken. Emmanuel Massart sagt, er wolle die Lage der Flüchtlinge nicht mit der jener vergleichen, die derzeit zu Tausenden an der türkisch-griechischen Grenze auf Einreise in die EU hofften, aber: „Unsere Probleme hier sind massiv. Es ist frustrierend, dass wir nicht genug helfen können, so sehr wir uns auch bemühen.“

"Aus den Lagern kommt nichts gutes"

Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen berichten dem Tagesspiegel von Prostitution, Frühverheiratung, Kriminalität in den Lagern. Einer, der nicht namentlich zitiert werden möchte, sagt: „Aus den Lagern kommt nichts gutes.“ Er könne es keinem Geflüchteten verübeln, wenn dieser sich lieber in einem Bereich von Idlib niederlässt, in dem die Islamisten des HTS ein strenges Regiment führen. „Die überwiegende Mehrheit hat null Sympathien mit der Ideologie der Fanatiker. Aber sie gewährleisten, wo sie präsent sind, zumindest einen Hauch von Ordnung, der die pure Barbarei verhindert.“

Wer Geld hat, kann versuchen, sich von Schmugglern in die Türkei bringen zu lassen. An mehreren Stellen wurden Tunnel unter die Betonmauer gegraben, die Schmuggler nehmen 300 Euro pro Person.

Flüchtlinge aus ganz Syrien sind in Idlib gestrandet.
Flüchtlinge aus ganz Syrien sind in Idlib gestrandet.

© AFP

Offiziell ist die Mauer nur an einer Stelle durchlässig, dem Grenzübergang nahe der türkischen Stadt Reyhanli. Alle Hilfsorganisationen müssen hier durch, transportieren Ausrüstung, Trinkwasser und Nahrungsmittel. Sämtliche Mitarbeiter sind Syrer, Ausländer werden von den türkischen Grenzern nicht ins Land gelassen. Angeblich, damit sie nicht von Dschihadisten gekidnappt werden können. Nahe des Übergangs bei Reyhanli liegt auch das UN-Büro, das die Arbeit der Hilfsorganisationen koordiniert.

Als ein Hauptproblem gilt die medizinische Unterversorgung. Zur Strategie des Regimes gehört, gezielt und systematisch Krankenhäuser zu bombardieren. Hilfsorganisationen verlegten Kliniken deshalb an geheime Orte, oft unter die Erde.

Weil Assads Armee vorrückte, musste evakuiert werden

Auch Malteser International betrieb bis vor kurzem zwei Kliniken in der Provinz Idlib: ein altes, umfunktioniertes Schulgebäude und eine extra in den Berg gehauene Anlage, die so gut geschützt war, dass drei Bombardierungen nur im Eingangsbereich Schäden anrichten konnten. Weil Assads Armee nun vorrückte, mussten beide Standorte evakuiert werden, sagt Teamleiterin Janine Lietmeyer, die sich gerade in Beirut aufhält.

„Unsere Mitarbeiter vor Ort haben alles irgendwie bewegliche mitgenommen und Richtung Norden transportiert. Ultraschallgeräte, Inkubatoren für Frühgeborene, Medikamente.“ Inzwischen befinden sich beide Einrichtungen tief in der Zone des Regimes. Janine Lietmeyer sagt: „Wir werden definitiv zwei neue Kliniken errichten.“

Die Planungen laufen, die Standorte bleiben geheim. Jedenfalls rückt auch Malteser International näher an die Betonmauer im Norden heran. Für Lietmeyer ist klar: Je weiter das Regime voranschreitet, je enger die Flüchtlinge zusammengetrieben werden, desto mehr Tote wird es geben, nicht nur an der Front. 

Ob es das Coronavirus bereits bis nach Idlib geschafft hat, ist nicht bekannt. Bestätigte Fälle gibt es keine, Testmöglichkeiten aber auch nicht.

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Zwischendurch erlebt die Zivilbevölkerung kurze Phasen der Hoffnung. Wie im Oktober 2017, als die Türkei in Idlib einmarschierte und ankündigte, die gesamte Provinz in eine Deeskalationszone zu verwandeln. Zwar ist Erdogans Armee nun tatsächlich mit Stützpunkten präsent, das Regime rückt trotzdem vor. Oder vergangene Woche, als die Türkei nach dem Tod dutzender eigener Soldaten Vergeltungsangriffe ankündigte, unter anderem einen Gegenvorstoß der Aufständischen nach Süden mit Artillerie und Drohnen unterstützte und so die Ortschaft Saraqib, 15 Kilometer südöstlich von Idlib-Stadt, zurückerobert werden konnte.

Die Türkei scheut den offenen Konflikt mit Russland

Doch das Regime konterte, vertrieb die Aufständischen, inzwischen sind russische Bodentruppen in Saraqib eingerückt, was faktisch zur Konsequenz hat, dass die Türkei keinen erneuten Rückeroberungsversuch unterstützen wird: Sie scheut den offenen Konflikt mit Russland.

Lange gab es auch die Hoffnung, dem Regime gehe es nur darum, die M4 wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Eine strategisch wichtige Schnellstraße, jahrelang mitten im Rebellengebiet gelegen. Doch Assads Schergen haben die M4 inzwischen längst überquert, drängen weiter Richtung Norden.

Wladimir Putin (rechts) und Recep Tayyip Erdogan trafen sich am Donnerstag in Moskau.
Wladimir Putin (rechts) und Recep Tayyip Erdogan trafen sich am Donnerstag in Moskau.

© Pavel Golovkin/dpa

Was passiert, sollten sie tatsächlich bis zur Grenze vorstoßen und die riesigen Flüchtlingslager erreichen, darüber existieren unterschiedliche Einschätzungen. Einerseits gibt es Stimmen, die sagen: Ein Massaker dieser Dimension könne sich keine Seite erlauben. Im äußersten Notfall werde Erdogan einknicken und doch noch die Grenze öffnen. Sein Innenminister Süleyman Soylu deutete am Donnerstag an, man könne alle Flüchtlinge aus Idlib direkt nach Europa weiterleiten. Denkbar ist für Optimisten auch, dass Putin im Ernstfall mäßigend auf Assad einwirkt. Dass sich jedenfalls doch noch eine Einigung abzeichnet.

Andererseits gibt es Stimmen, die sagen: Angesichts des Leids, das die Bevölkerung des Landes in den letzten Jahren erlebt hat, angesichts der vielen Kriegsverbrechen und Tabubrüche, ist in diesem Konflikt überhaupt nichts mehr unvorstellbar.

Sie hat keine Koffer gepackt

Huda Khayti, die Leiterin des Frauenzentrums in Idlib-Stadt, sagt, sie habe noch keine konkreten Fluchtpläne. Sie weiß nicht, ob sie laufen muss oder in einem Auto mitgenommen wird. Sie hat keine Koffer gepackt. „Wahrscheinlich werde ich gar nichts mitnehmen.“ Ihre Eltern leben in Reyhanli, der türkischen Stadt hinter dem einzigen offiziellen Grenzübergang. 50 Kilometer Luftlinie von ihr entfernt, unerreichbar. Sie sagt, sie werde wohl versuchen müssen, irgendwie dorthin zu gelangen. Und dabei auch das Risiko eingehen, von türkischen Soldaten erschossen zu werden. „Täte ich es nicht, wäre ich so oder so tot.“

Als sie gestern Abend im Bett lag, habe sie durchs Fenster eine Rakete gehört, die sich ihrem Viertel näherte. Aber anhand des Klangs auch gewusst, dass die Rakete ihre eigene Wohnung verfehlen und etwas entfernt einschlagen werde, wie schon so oft. „Für ein paar Sekunden war ich froh und dachte: Gott sei Dank, dass sie nicht mich getroffen hat.“ Aber dann seien Khayti doch die Tränen gekommen, weil sie wusste, dass es dafür sehr wahrscheinlich jemand anderen getroffen hat.

Huda Khayti sagt, Außenstehende hätten womöglich eine falsche Vorstellung von den Menschen, die in Idlib leiden, und deren Bedürfnissen: „Wir wünschen uns nur, in Sicherheit zu leben. Mehr nicht. Wir wollen weder nach Europa, noch wollen wir ein Luxusleben. Nur Sicherheit.“

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